Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/16

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie

die Sachen selbst hinlenkte und dazu erzog, sie in aller Schärfe geistig ins Auge zu fassen und nüchtern, treu und gewissenhaft zu beschreiben, von Willkür und Hoffart im Erkennen befreite, zu einer schlichten, sachgehorsamen und darin demütigen Erkenntnishaltung hinführte. Sie führte auch zu einer Befreiung von Vorurteilen, zu einer unbefangenen Bereitschaft, Einsichten entgegenzunehmen. Und diese Einstellung, zu der er bewußt erzog, hat viele von uns auch frei und unbefangen gemacht für die katholische Wahrheit, so daß eine ganze Reihe von seinen Schülern es ihm mitverdanken, wenn sie den Weg zur Kirche fanden, den er selbst nicht gefunden hat.

Scheler war es darum zu tun, anstelle des kritisch prüfenden Blicks (blinzelnden, wie er sagte) den geraden, offenen und vertrauensvollen Blick, besonders für die Welt der Werte, zu setzen. Bei vielen hat das gewiß befreiend und segensreich gewirkt, es ist aber früher schon erwähnt worden und soll auch an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß für ihn und für viele, die unter seinem Einfluß standen, etwas mehr Kritik gegenüber Anregungen von außen und dem eigenen Verfahren recht heilsam gewesen wäre.

Über die Art, wie Heidegger formal auf die Weltanschauung unserer Zeit wirkt, wage ich kaum heute schon ein Urteil abzugeben. Daß er seit einer Reihe von Jahren auf die studierende Jugend und auch auf reifere Menschen einen faszinierenden Einfluß ausübt, ist Tatsache. Daß sich das in der weltanschaulichen Haltung der Zeit auswirken muß, ist unzweifelhaft. Welcher Art diese Wirkung ist, kann ich tatsächlich nicht angeben. Sie kann zu tieferem Lebensernst hinführen, weil sie die entscheidenden Lebensfragen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hat. Ich könnte mir aber denken, daß durch die Art, wie das bisher geschehen ist, durch die alleinige Betonung der Hinfälligkeit des Daseins, des Dunkels vor ihm und nach ihm, der Sorge, eine pessimistische, ja nihilistische Auffassung gefördert und die Orientierung am absoluten Sein untergraben wird, mit der unser katholischer Glaube steht und fällt.


Schluß: KATHOLISCHE UND MODERNE WELTANSCHAUUNG

Darum möchte ich diesen allzu kurzen Überblick über eine tiefeinschneidende Geistesbewegung schließen mit dem Pauluswort: Prüfet alles und das Gute behaltet! Prüfen kann aber nur, wer einen

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)