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Abschnitt III

dem gegenüber, um dessen Heil es ihm zu tun ist. Er kann versuchen, ihn zu bestimmen, daß er sich der Gnade zuwendet. Die freien Akte, die hier in Betracht kommen, sind vornehmlich Akte der Mitteilung über den Heilsweg und alles, was damit zusammenhängt: direkte Mitteilungen oder Nachweis der Quellen, aus denen das Wissen um das, was nottut, zu gewinnen ist. Neben diese belehrende Tätigkeit, die voraussetzt, daß das Wissen um das Heil das Verlangen danach hervorrufen wird und das Verlangen die freie Entscheidung, kann ein Appell an andere Motive treten; z.B. Bitten, die sich auf die natürliche Liebe des zu Gewinnenden zu dem Mittler stützen, oder Drohungen, die auf seine Furcht rechnen u.s.w. Überall handelt es sich dabei um Versuche, mit Hilfe des keiner Willkür unterworfenen Lebens der Seele die freie Aktivität in der Richtung auf das angestrebte Ziel in Bewegung zu bringen. Auch wo sich die Aktivität des Mittlers unmittelbar an die des andern wendet – die Zuwendung zum Heil als freie Tat der Liebe erbittend oder als Akt des Gehorsams fordernd –, ist die Mitwirkung jener Unterschicht vorausgesetzt.

Gelingt es dem Mittler, sich auf diese Weise den fremden Willen geneigt zu machen, so hat er einen unmittelbaren Konnex zwischen der heilsbedürftigen Seele und der Gnade hergestellt, und damit ist sein Mittleramt erledigt, wenigstens soweit seine Aktivität sich direkt an der fremden Seele betätigen kann. Es bleibt ihm noch ein anderer Weg, und dieser zweite ist der einzige, sofern es ihm nicht gelingt, den fremden Willen auf seine Seite zu ziehen. Ich meine den Appell an die Gnade selbst, das Bemühen, die göttliche Liebestätigkeit als Bundesgenossen zu werben. Die Aktivität, die hier zu entfalten ist, ist die des Gebets. Der Gläubige kann sich im Gebet an Gott wenden und von ihm erflehen, daß er seine Gnade einem andern zuteilwerden läßt. Und Gott kann einer Seele zuliebe, die er bei sich aufgenommen hat, eine andere zu sich heranziehen. Auf welchen Wegen, das sahen wir früher. Daß die göttliche Freiheit sich in der Gebetserhörung dem Willen seiner Auserwählten gleichsam unterwirft, das ist die wunderbarste Tatsache des religiösen Lebens. Warum es so ist, das geht über alles Begreifen.

Die Möglichkeit dieser Mittlerschaft vor Gott hat weitgehende Konsequenzen. Sie ist es, die das Heil zu einer gemeinsamen Angelegenheit aller Menschen macht. Jeder ist für sein eigenes Heil verantwortlich,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/161&oldid=- (Version vom 31.7.2018)