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Die ontische Struktur der Person...

die eine Kirche zusammenhält. Alle andern sind Glieder der Kirche je nachdem, was ihnen an Geist und Gaben zuteilgeworden ist, und gehalten zu leisten, wessen sie vermöge des ihnen verliehenen Pfundes fähig sind. Gerade um der Unvollkommenheit dieser Glieder willen ist keines von ihnen versichert, daß es der helfenden Liebestätigkeit eines andern entraten kann oder die andern der seinen. Und von eben dieser Unvollkommenheit aus versteht es sich, daß neben der universellen Stellvertretung des einen für alle spezielle geistliche Patronatsverhältnisse Sinn haben. Es kann der einzelne innerhalb der einen Kirche speziell die Stellvertretung derer übernehmen, die seine Nächsten sind in aktueller Lebensgemeinschaft oder die sich seiner Fürbitte besonders empfohlen haben und die aus dem einen oder andern Grunde seine Liebe wirksamer umfaßt.

In diesen Patronatsverhältnissen spielt außer der allgemeinen Fürbitte um die göttliche Gnade das Verhältnis von Schuld und Strafe, Verdienst und Lohn eine Rolle. An dem Urheber einer Schuld muß die Strafe vollzogen werden, durch die die Schuld wettgemacht werden kann[1]. Der Schuldige steht vor Gott, als dem Richter, dem der Vollzug der Strafe ursprünglich zusteht, seiner Strafe gewärtig. Nun besteht bei jedem freien Akt die prinzipielle Möglichkeit, daß ihn anstelle der Person, der der Vollzug ursprünglich zusteht, eine andere in Vertretung vollzieht. Die Möglichkeit einer Vertretung kann bei dem Schuld-Strafe-Verhältnis an verschiedenen Stellen realisiert sein. Einmal kann der Strafvollzug von dem ursprünglichen Richter einem andern übertragen werden. Darauf brauchen wir hier nicht einzugehen. Die andere personale Stelle, die für eine Vertretung in Betracht kommt, ist die des Schuldigen. Um zu verstehen, daß auch an seine Stelle ein anderer treten kann, müssen wir uns klarmachen, welche Aktivität im Straferleiden als solchem liegt.

Wir sahen, daß die Strafe ihrem materialen Gehalt nach in einem Leid besteht; das dem Schuldigen zugefügt wird. Das Leiden allein ist kein freier Akt und demnach zur Vertretung offenbar nicht geeignet. Wohl ist es das Er-leiden der Strafe als solcher. Auch das kann noch verschiedenes bedeuten. Ich kann ein Leid, das mich trifft, im Leiden als Strafe für eine begangene Schuld auffassen.


  1. Unter Strafakt bzw. Vollzug der Strafe ist hier zunächst immer das Verhängen der Strafe verstanden, erst sekundär das Ausführen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/164&oldid=- (Version vom 31.7.2018)