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Abschnitt IV

lenkbar macht. Andererseits die Fähigkeit zu absoluter Empfindungslosigkeit, die es ermöglicht, die Tür zum Leibe nach Belieben zu schließen und von ihm gänzlich unbehelligt zu bleiben. Beides ist auf dem Wege der Konzentration und Übung zu erreichen. Wie, das brauchen wir hier nicht näher zu erörtern[1].

Das Erringen der vollkommenen Freiheit ist selbst ein Werk der Freiheit. Allerdings wohl nicht der Freiheit allein. Wir sahen früher daß alle Aktivität sich auf ein anders geartetes Fundament stützt. Woher mag der Wille die Kräfte nehmen, die zu so ungeheurer Anspannung und Leistung erforderlich sind? Daß die natürlichen Kräfte dazu hinreichen sollten, erscheint ausgeschlossen. Es handelt sich ja gerade darum, sich von diesen natürlichen Kräften unabhängig zu machen, das geistige Leben für Fälle, in denen sie versagen, sicherzustellen.

Es gibt eine Möglichkeit, die psychischen Kräfte zu erneuern, wenn sie infolge leiblicher Erschöpfung versagen, ohne daß am Zustande des Leibes etwas geändert wird[2]. Aus der geistigen Welt, mit der die Seele in Berührung steht, strömen ihr unmittelbar Kräfte zu, und in sich selbst hat sie einen ursprünglichen Quell, der es ihr möglich macht, unabhängig von der Konstitution des Leibes und seinen wechselnden Zuständen sich zu öffnen und geistig aktiv zu sein und sich aus dem Geiste zu regenerieren. Der ursprüngliche Quell ist eine Gabe, mit der sie ausgestattet ist, analog der materiellen Konstitution. Er ist, ebenso wie die Kräfte, die die Psyche der Einsenkung in den Leib verdankt, nicht unerschöpflich. Unerschöpflich aber sind die Zuströme, die sie erfahren kann. In welchem Maße es der Fall ist, das ist Sache ihrer Freiheit, und ebenso, was sie mit ihrer ursprünglichen Ausstattung anfängt. Es ist möglich, daß sie sich in einer unfruchtbaren Aktivität verzehrt, z.B. in einer aktiven Hingabe an den Leib und das sinnliche Leben, im Erleiden und Genießen dessen, was von daher kommt, in der Sorge darum und dafür. Sie verbraucht sich dann, ohne sich zu erneuern, weil sie gar nicht ihren Blick dahin wendet, woher ihr Hilfe kommen kann: zu den geistigen Werten aller Art, personalen und sachlichen, und vor allem zum Quell des Lichts selbst. Die Sorge für den Leib


  1. (Zusatz fehlt im Manuskript. Anm. d. Herausgeber)
  2. (Idem. Anm. d. Herausgeber)
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/177&oldid=- (Version vom 31.7.2018)