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Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie

danach umtun, aus welchen Quellen er seine Weltanschauung schöpfen soll.

In den letzten Jahrzehnten, ja eigentlich schon seit der Aufklärungszeit, war es in den Kreisen der sogenannten Gebildeten der höchste Ehrgeiz eine wissenschaftliche Weltanschauung zu besitzen. Was darunter zu verstehen ist, haben sich diejenigen, die darauf Anspruch erhoben, wohl nicht recht klargemacht, sonst hätte es ihnen fraglich werden müssen, ob es so etwas überhaupt geben könne. Wenn die Weltanschauung auf den Charakter der Wissenschaftlichkeit berechtigten Anspruch erheben wollte, so müßte sie entweder selbst Wissenschaft sein oder aus einer Wissenschaft stammen oder aus allen Wissenschaften zusammen. Es gibt aber nicht eine neben den andern, die das gesamte Weltall zu erforschen hätte. Es ist vielmehr wesentlich für die Wissenschaft als solche, daß sie sich in Einzelwissenschaften zur Erforschung einzelner Gegenstandsgebiete verzweigt und sich um so mehr spezialisiert, je wissenschaftlicher sie wird. Es kann also keine einzelne Wissenschaft ein geschlossenes Weltbild geben und die wissenschaftliche Weltanschauung kann demnach weder selbst eine Wissenschaft sein, noch aus einer Wissenschaft ihr Weltbild entnehmen. Wenn also die wissenschaftliche Weltanschauung überhaupt darauf Anspruch erhebt, ein geschlossenes Weltbild zu geben, so wird sie dafür aus allen Wissenschaften Bausteine zusammentragen müssen.

So ist es auch tatsächlich im allgemeinen aufgefaßt worden. Entweder hat der Einzelne aus dem, was ihm an Material, sei es durch eigene wissenschaftliche Arbeit oder aus populären Darstellungen aus verschiedenen Wissensgebieten, zur Verfügung stand, sich ein Weltbild zusammengesetzt, oder man hat diese Aufgabe der Philosophie zugewiesen: die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu sammeln und daraus ein Weltbild zu konstruieren. Es muß aber gesagt werden, daß weder auf die eine noch auf die andere Weise eine wissenschaftliche Weltanschauung zustandekommen kann. Wenn der Naturwissenschaftler über das kleine Gebiet hinausgeht, das er übersieht und wirklich beherrscht, und sich eine naturwissenschaftliche Weltanschauung bildet, so heißt das, daß er weitgehend ohne tragfähige Grundlage ein Gebäude mit seiner Phantasie konstruiert. Und selbst, wenn man aus allen Gebieten das zusammenträgt, was der jeweilige Stand der Wissenschaft an Ergebnissen liefern

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Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)