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Abschnitt II

und unverbildetem katholischen Sinn an die Dichtung herantritt, deutlich spüren, daß hier etwas Wesentliches fehlt, er wird der Lösung des Dichters den Glauben versagen. Die lieblichen Chöre des Schlußbildes haben nichts von der biblischen Kraft der Erzengelhymnen im Prolog. Eher erinnern sie an die Gesänge, mit denen Mephistos dienende Geister Faust in Schlummer singen, an die Elfenlieder, die ihm die Reue aus der Seele schmeicheln. Sie möchten unsere Sinne betören und uns Unmögliches glaubhaft machen.

„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ – das ist eine Scheinwahrheit, wenn dieses Streben nicht formal und material bestimmt ist, wenn es nicht Streben nach dem Guten selbst um seiner selbst willen ist. Fausts Geist ist von seinem Urquell abgelenkt worden, er hat sich in freier Entscheidung vom höchsten Gut abgewendet und hat niemals eine Rückwendung vollzogen. Ja, er scheint sich in seinen letzten Lebenstagen und Augenblicken entschiedener als je ganz auf das Irdische zu beschränken und dem Ewigkeitssehnen seiner Jugend den Rücken zu kehren, er scheint wie von einem Tätigkeitsfieber ergriffen, das ihn treibt, sein Lebenswerk zum Abschluß zu bringen. Und wenn er unter dem Anhauch der Sorge erblindet, so will uns das – trotz seiner eigenen Versicherung, daß in seinem Inneren helles Licht leuchtet – wie ein Symbol jener geistigen Verblendung dünken, die den letzten Dingen zu entgehen sucht, indem sie die Augen davor schließt.

Wie sollen wir glauben, daß dieser Geist, der sich selbstherrlich auf die eigene Kraft stellt, zu den „reuig Zarten“ gehöre, bei denen die Liebe von oben Eingang finden, die sie reinigend durchdringen, als Ziel ihres Sehnens emporziehen und schließlich beseligend ganz in sich bergen kann?

Es hat nur den Anschein, als kämen Natur, Freiheit und Gnade in Goethes Lebensdichtung zu ihrem Recht. Die Freiheit wird nicht angewendet um der Gnade entgegenzustreben und die Pforten zu öffnen, die Gnade soll mechanisch ihr Werk verrichten, den, der sich gegen sie verschlossen hat, ergreifen und emportragen, ohne daß er den Berg der Läuterung zu ersteigen braucht. Dieser Berg heißt Kalvaria und auf ihm hochragend das Kreuz, jenes Zeichen, dem Goethe ausgewichen ist und das doch für alle Ewigkeit als der einzige Weg von der Erde zum Himmel aufgerichtet ist. Das Zeichen, das zu klarer Scheidung und Entscheidung auffordert.

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Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/27&oldid=- (Version vom 31.7.2018)