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Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

abgeschmackt erscheint“[1]. Man darf sich die Mahnung ernstlich zu Herzen nehmen, mit dem Heiligsten nicht zu spielen und zu tändeln. Aber Goethes eigentümliche Stellung zum Zeichen unserer Erlösung bedarf doch noch genauerer Prüfung. Sie scheint mir ganz tief mit seiner innersten Haltung zur Welt und zum Christentum zusammenzuhängen. Wie er das Kreuz verhüllen möchte, so hat er für die Idee „Sünde“ und „Reue“ keinen Raum.

Die katholischen Goetheverehrer, die sich bemühen, recht ins Licht zu stellen, was uns mit ihm verbindet, weisen mit Recht darauf hin, mit welch tiefer Ehrfurcht er zeit seines Lebens vor Gottes Schöpfung gestanden hat. Jedes Ding war ihm Auswirkung einer ewigen Idee, vergängliches Gleichnis eines Unvergänglichen. Mit liebendem Blick hat er jedes Gebilde der Natur umfaßt, bestrebt, die reine Idee herauszuschauen und nachzugestalten. Er sieht gleichsam die Natur, wie sie aus Gottes Händen hervorging. Unverträglich ist ihm der Gedanke, daß durch diese Gotteswelt ein unheilbarer Riß hindurchgehen sollte. Wohl kennt er die Schuld und ihren lastenden Druck auf der Menschenseele, aber sie erscheint eher als Schicksal denn als Sünde: „Ihr führt ins Leben ihn hinein, ihr laßt den Armen schuldig werden“! Und seine ehrfürchtige Liebe zur gottgeschaffenen und von Gottes Odem belebten Welt läßt ihn daran glauben, daß sie die Heilkräfte in sich selbst tragen müsse.

Eduard Spranger hat in einem seinen Aufsatz im Inselalmanach auf das Goethejahr 1932 darauf hingewiesen, daß in der Faustdichtung neben der Tragödie des Mannes, der von Stufe zu Stufe zu Formen immer höheren Strebens emporsteigt, ein Paralleldrama in Ansätzen zu finden sei: ein Stufen reich von immer höheren Formen der Liebe, die sich in den weiblichen Gestalten verkörpern, bis zur höchsten und reinsten: der erbarmenden und erlösenden Liebe, die im Bilde der Jungfrau-Mutter-Königin erscheint. Das geheimnisvolle „Das Ewigweibliche zieht uns hinan“ würde also dahin zu deuten sein, daß in das Wesen der Frau erlösende Kräfte gelegt sind. Ein Gedanke von erhabener und herzbewegender Schönheit, der eine heilige Verantwortung auf uns legt. Er darf uns aber nicht blind machen gegen die harte Tatsache, daß der Riß der Erbsünde durch die ganze Schöpfung und durch die weibliche wie durch die männliche


  1. Wilhelm Meisters Wanderjahre, II 2.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)