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Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie

in seiner Auffassung der Welt vorwiegend an materiellen Dingen und Vorgängen hängen. Und der Kritizist, der die Frage zu lösen sucht, wie Erkenntnis möglich sei, Erkenntnis überhaupt und Erkenntnis dieses oder jenes Gebiets, wird leicht blind für die Tatsachen, für die ihm der Rechtsnachweis nicht zu erbringen zu sein scheint.

Doch nicht nur für den Philosophen selbst bedeutet die Art seines philosophischen Denkens eine Formung seiner ganzen Einstellung zur Welt: die jeweils herrschende Philosophie bestimmt den Zeitgeist, d.h. die Denk- und Auffassungsweise auch derer, die nicht selbst Philosophen sind, ja nicht einmal die Werke der schöpferischen Philosophen selbst lesen, sondern nur durch eine mehrfache Vermittlung von ihren Auswirkungen erreicht werden.

So werden wir die Frage nach der weltanschaulichen Bedeutung der Phänomenologie in dem doppelten Sinn zu stellen haben: 1. Kann sie ein geschlossenes Weltbild liefern oder uns zum Bau eines solchen verhelfen? 2. Wie kann sie auf die gesamte Weltauffassung wirken und hat sie auf den Geist unserer Zeit gewirkt?


I. WAS IST PHÄNOMENOLOGIE?
a) Historisches

Zunächst aber muß klargelegt werden, was unter Phänomenologie zu verstehen ist. Es soll dabei keineswegs auf alle Bedeutungen eingegangen werden, die dem Wort in philosophischen Systemen früherer Zeiten schon beigelegt wurden. Wer heute davon spricht, meint damit eine einflußreiche philosophische Richtung unserer Zeit, die vor rund 30 Jahren begründet wurde – vor 10-15 Jahren hätte ich unbedenklich gesagt: von Edmund Husserl begründet wurde, und zwar durch seine Logischen Untersuchungen, die in 1. Auflage 1900/1901 erschienen sind. Und ich hätte mich wohl damit begnügt, Husserls Phänomenologie zu charakterisieren. Heute hat sich aber die Sachlage verändert: für weite Kreise der philosophisch Interressierten tritt Husserls Name fast zurück hinter dem Max Schelers und Martin Heideggers, die auf diese weiten Kreise, aber auch auf viele Philosophen von Fach viel faszinierender gewirkt haben, als es die nüchtern-strenge Forscherart Husserls vermochte.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)