Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/40

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Die Seelenburg

Die Absicht der Heiligen ist eine religiös–praktische. Sie hatte von ihren Beichtvätern den Auftrag erhalten, ihre Erfahrungen im Gebetsleben niederzuschreiben. Sie tat es in der Meinung, daß die Schrift nur für ihre geistlichen Töchter bestimmt sei; in dem Wunsch, sie zur Pflege des inneren Gebets und zum Streben nach Vollkommenheit anzueifern; auch in der Hoffnung, ihnen verständlich zu machen, was viele vielleicht schon selbst erfahren hätten – denn sie wußte, daß in ihren Klöstern mystische Begnadung nichts Seltenes sei –, und sie dadurch vor mancher Beängstigung und Verwirrung zu behüten, durch die sie selbst sich hatte hindurchkämpfen müssen, weil es ihr an einer erleuchteten Seelenleitung fehlte.

Sie spricht völlig ungezwungen als Mutter mit ihren Töchtern, streut Ermahnungen ein, fordert sie auf, Gott mit ihr für die Wundertaten zu preisen, die er in den Seelen vollbringt, schiebt öfters Seitenbetrachtungen ein, um vor gewissen Gefahren zu warnen. All das entspricht ihrem leitenden Zweck, erscheint aber dem Leser als Rankenwerk, der in der Absicht an das Werk herangeht, den Grundriß der Seele zu studieren. Doch auch er kommt auf seine Kosten.

Es war für die Heilige nicht möglich, die Vorgänge im Innern des Menschen verständlich zu machen, ohne sich darüber zu erklären, was denn eigentlich dieses Innere sei. Dafür bot sich ihr das glückliche Bild einer Burg mit vielen Wohnungen und Gemächern. Den Leib bezeichnet sie als die Ringmauern der Burg, die Sinne und die geistigen Kräfte (Gedächtnis, Verstand und Willen) bald als Vasallen, bald als Wächter oder auch einfach als Bewohner. Die Seele gleicht mit ihren vielen Gemächern dem Himmel, in dem ja „viele Wohnungen sind“[1]. „Ja …, wenn wir es recht ansehen, so ist die Seele des Gerechten nichts anderes als ein Paradies, in welchem der Herr, wie er selbst sagt, seine Lust hat“[2]. Die Wohnungen sind nicht in einer Reihe zu denken, „sondern ihr müßt eure Augen auf den Mittelpunkt, d.i. auf das Gemach oder den Palast, in welchem der König wohnt, richten und euch denselben vorstellen wie die schmackhafte Frucht des Palmenbaumes, welche viele Schalen hat, die man


  1. Joh. 14, 2. Die Heilige spricht es nicht aus, aber es ist wohl möglich, daß diese Schriftstelle sie auf das Bild von der Burg gebracht hat.
  2. Seelenburg, S. 7.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)