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Die Seelenburg

Zuversicht an, zu einem restlosen Verständnis der Seele, ihres Wesens und ihres Lebens, der Menschenseele als solcher wie der Einzelseele, gelangen zu können. Wir stehen vor einem Rest des alten Rationalismus, der keine Geheimnisse anerkennt, der von der Bruchstückhaftigkeit alles geschöpflichen Erkennens nichts zu wissen scheint und selbst das Geheimnis des Verhältnisses der Seele zu Gott vollkommen entschleiern zu können glaubt. Es bleibt ihm selbst verborgen, wieviel er von dem, was er als Ergebnis seiner natürlichen Erkenntnis in Anspruch nimmt, den Glaubenslehren und dem Glaubensleben verdankt.

Es ist nicht möglich, in unserem Rahmen über diese wenigen Anregungen und Andeutungen hinauszugehen. Es wäre eine eigene Aufgabe, die Geschichte der Psychologie einmal unter dem Gesichtspunkt durchzugehen, wie sich Grundeinstellung im Glaubensleben und Auffassung der Seele – beim einzelnen Forscher und im jeweiligen Zeitalter – zueinander verhalten.

Wenn man eine so unfaßliche Blindheit gegenüber dem seelisch Wirklichen gewahrt, wie sie in der naturwissenschaftlichen Psychologie des 19. Jahrhunderts als geschichtliche Tatsache vorliegt, so möchte man meinen, daß nicht bloß Verranntheit in gewisse metaphysische Vorurteile, sondern eine unbewußt leitende Angst vor einer Begegnung mit Gott die Verblendung herbeigeführt und die Tiefen der Seele verhüllt haben mag. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, daß niemand so in die Tiefen der Seele eingedrungen ist, wie die Menschen, die mit einem heißen Herzen die Welt umfaßt hatten und dann durch die starke Hand Gottes aus der Verstrickung gelöst und in das eigene Innere und Innerste hineingezogen wurden. Neben unserer heiligen Mutter Teresia steht hier in erster Linie, ihr im tiefsten wesensverwandt und auch von ihr so empfunden, der heilige Augustinus. Für diese Meister der Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung wurden die geheimen Tiefen der Seele erleuchtet: nicht nur die Phänomene, die bewegte Oberfläche des Seelenlebens, waren für sie unleugbare Erfahrungstatsache, sondern auch die Kräfte[1],


  1. Ob es angemessen ist, zwei Grundkräfte für das höhere Seelenleben anzunehmen (Verstand und Willen) oder drei (als drittes das Gedächtnis oder auch das Gefühl), das sind Fragen, die wir einer durchgeführten Seelenlehre überlassen dürfen. Einiges darüber ist in diesem Buch (Endliches und Ewiges Sein, Kap. VII, § 9, 7) gesagt worden.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/66&oldid=- (Version vom 31.7.2018)