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Was ist Phänomenologie?

philosophischen Richtungen weite Laienkreise anziehen. Und darum konnte sie einen starken Einfluß auf den Zeitgeist ausüben.

Von den verschiedenen Richtungen des Neukantianismus oder Kritizismus unterschied sich die Phänomenologie dadurch, daß sie sich nicht an den Methoden der Einzelwissenschaften, sondern an den Sachen selbst orientierte (um in ihnen die Methoden zu messen): darum hat man die Wandlung, die sie herbeiführte, als Wende zum Objekt bezeichnet. Gegenüber dem Empirismus, der sich auf bloße sinnliche Erfahrung stützen will, war sie als Wesenswissenschaft ausgezeichnet und durch beides erschien sie als eine Rückkehr zu den ältesten Traditionen: Plato - Aristoteles - Scholastik. Die Neuscholastik aber stieß sich an der Wesensintuition, deren Geltung sie nicht anerkennen wollte.

In den bisher genannten Punkten – Wende zum Objekt und Wesensforschung – stimmten Scheler und Husserls Göttinger Schülerkreis durchaus mit ihm überein. Wenn wir verstehen wollen, wo sich ihre Wege scheiden, müssen wir Husserls weitere Entwicklung verfolgen.


c) Gegensatz zwischen Husserl und Scheler

Ich sagte, daß ihm in der Arbeit an logischen Einzelproblemen die weit über dieses Gebiet hinausreichende Tragweite der verwandten Methode klar wurde. Das legte die Verpflichtung auf, diese Methode nun selbst auszubauen und auf eine feste Grundlage zu stellen. Die Phänomenologie sollte Grundwissenschaft werden. Wenn sie die Voraussetzungen aller anderen Wissenschaften und auch der vorwissenschaftlichen Erfahrung prüfen sollte, so durfte sie kein Ergebnis der positiven Wissenschaften als feststehend voraussetzen und auch von der Erfahrung nicht ohne weiteres Gebrauch machen.

Um einen absolut sicheren Ausgangspunkt zu finden, stellte Husserl eine ähnliche Zweifelsbetrachtung an wie vor ihm Augustin und Descartes: das, was ich denke, braucht nicht wahr zu sein, was ich wahrnehme, nicht wirklich zu existieren: alles kann sich als Irrtum, als Traum, als Täuschung herausstellen; aber an der Tatsache, daß ich denke, wahrnehme etc., kann ich nicht zweifeln, und ebensowenig daran, daß ich, der Denkende, Wahrnehmende, Zweifelnde

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Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)