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Sein und Zeit

und Verstehen – müssen sich in einer sehr unbestimmten Allgemeinheit halten, weil sie die Eigentümlichkeit des leiblich-seelischen Seins nicht berücksichtigen. (Die Befindlichkeit scheint mir sehr wichtig, um zu ergründen, was leibliches und was seelisches Sein ist und wie beides zusammenhängt, kann aber andererseits nicht ihrem vollen Sinn nach geklärt werden, wenn sie nicht in ihrer Entfaltung als leibliches und seelisches Sein betrachtet wird.) Die Unvollständigkeit schließt aber nicht aus, daß das, was herausgestellt ist, echte Aufschlüsse über das menschliche Sein gibt. Die Herausarbeitung der eben genannten Grundverfassung und ihrer Abwandlung in den beiden verschiedenen Weisen des alltäglichen und des eigentlichen Seins darf als meisterhaft bezeichnet werden. Ihr ist wohl auch die starke und nachhaltige Wirkung des Buches hauptsächlich zu verdanken. Ist aber diese Grundverfassung zu einer möglichst weitgehenden Klärung des menschlichen Seins ausgewertet? Macht die Untersuchung nicht an manchen Stellen in überraschender Weise halt vor Verweisungen, die durch das Herausgestellte in geradezu gebieterischer Weise gegeben sind?

Das menschliche Sein wird als geworfenes bezeichnet. Es wird damit vorzüglich zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch sich im Dasein vorfindet, ohne zu wissen, wie er hineingekommen ist, daß er nicht aus und durch sich selbst ist und auch aus seinem eigenen Sein keinen Aufschluß über sein Woher zu erwarten hat. Damit wird aber die Frage nach dem Woher nicht aus der Welt geschafft. Man mag noch so gewaltsam versuchen, sie totzuschweigen oder als sinnlos zu verbieten – aus der aufgewiesenen Eigentümlichkeit des menschlichen Seins erhebt sie sich unabweisbar immer wieder und verlangt nach einem dieses in sich grundlose begründenden, in sich begründeten Sein, nach Einem, der das Geworfene wirft. Damit enthüllt sich die Geworfenheit als Geschöpflichkeit[1].

Sehr einleuchtend ist die Darstellung des alltäglichen Daseins: des In-der-Welt-seins, des besorgenden Umgehens mit den Dingen, des Mit-seins mit anderen. Es darf auch unbedenklich zugestanden werden, daß das menschliche Leben „zunächst und zumeist“ Mitleben


  1. Im Kant-Buch (S. 226) betont Heidegger, daß die Geworfenheit nicht nur das Zum-Dasein-kommen im Auge habe, sondern das Da-sein als solches ganz durchherrsche. Immerhin bezeichnet sie auch das Zum-Dasein-kommen. Zur Frage: Geworfenheit und Geschöpflichkeit vgl. im Folgenden S. 120.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/93&oldid=- (Version vom 31.7.2018)