Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/98

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Martin Heideggers Existentialphilosphie

dazu fähig, d.h. zum Eigenleben erwacht sind, aber die Führer vor allen anderen[1].

Nun zur Frage dessen, was „man gelesen haben muß“. Es gibt gewiß in einer Gemeinschaft Menschen, die mehr als andere befähigt sind zu beurteilen, was zu echter Geistesbildung beitragen kann. Sie tragen dann in dieser Hinsicht eine erhöhte Verantwortung, und es ist durchaus angemessen, wenn sich die weniger Urteilsfähigen von ihnen leiten lassen. In der Berufung auf das Man liegt ein Rest von Verständnis dafür, daß jede Gemeinschaft einen Schatz ererbter Weisheit zu hüten hat, an den der Einzelne mit seinem kleinen Erfahrungsbereich und dem bescheidenen Umkreis eigener Einsicht nicht heranreicht und auf den er nicht ohne großen Schaden verzichten könnte. Der Verfall aber besteht darin, daß die Tonangebenden häufig durchaus nicht die berufenen Sachverständigen sind und daß sie ihr unberufenes Urteil in unverantwortlicher Weise lautwerden lassen; andererseits unterwirft sich die Masse in unverantwortlicher Weise dem Urteil Unberufener und läßt sich gängeln, wo ein selbständiges, selbstverantwortliches Verhalten gefordert ist. Unverantwortlich meint also hier nicht, daß die Menschen keine Verantwortung hätten, sondern daß sie davor die Augen schließen und sich darüber hinwegzutäuschen suchen.

Darin liegt wirklich eine Flucht vor dem eigenen und eigentlichen Dasein. Daß sie möglich ist, das ist im menschlichen Sein selbst – wir dürfen ruhig auch sagen: im Wesen des Menschen – begründet: darin, daß sein Leben eine Fülle möglicher Verhaltungsweisen umfaßt und daß seine Freiheit ihm gestattet, sich ihnen nach Wahl zu entziehen oder hinzugeben, seinen Standort hier oder da zu nehmen. Es ist aber auch begründet in der natürlichen Bindung der Menschen aneinander, in dem Trieb, mitzumachen und sich Geltung zu verschaffen: dem Trieb der Starken, andere in ihre Gefolgschaft zu zwingen, dem Trieb der Schwachen, sich anzupassen und sich ihren Platz zu sichern, indem sie es den andern recht machen. Darin kommt die Sorge um das eigene Seinkönnen zum Ausdruck, in der nach Heideggers Auffassung die Existenz ganz eigentlich besteht. Wie es sich damit verhält, das wird bald


  1. Vgl. hierzu Edith Stein, Individuum und Gemeinschaft (Husserl Jahrbuch f. Phil. u. phänomenolog. Forschung, Bd. V), S. 252 ff. und Eine Untersuchung über den Staat (ebenda Bd. VII), S. 20 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)