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Walther Kabel: Ein Jenseits auf Erden (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 11)

Meter hoch und hingen so weit über, daß ein Entrinnen aus diesem gewaltigen Felsgrabe völlig unmöglich war. Auf dem Grunde dieses ungeheueren Felsloches, das eine Laune der Natur zu einem festen Gefängnis ausgestaltet hatte, bemerke Sir Hislington eine Anzahl von Hütten, vor denen halbnackte Menschen, mager wie lebende Gerippe, sich hin und her bewegten. Das „Jenseits auf Erden“ war endlich entdeckt.

Als der Resident durch seine Leute die Umgebung des Tales absuchen ließ, wurden in einer einigermaßen wohnlich eingerichteten Höhle auch jene beiden Brahmanen gefunden, die das neue Opfer eines wahnwitzigen religiösen Brauches den Überbringern abgenommen und an diesen Ort des Schreckens befördert hatten. Nicht weniger als hundertfünfzehn Personen, Männer, Weiber und Kinder, fand Hislington in dem Talkessel eingesperrt. Sie lebten wie Tiere zusammen. Ihre Nahrung bestand aus den wenigen Feldfrüchten, die in einer Ecke des Tales gediehen, und aus einer Kaninchenart, die sie in aus Steinen erbauten Ställen züchteten. Wasser spendete ihnen ein tiefes Felsloch, in dem sich der Regen wie in einer natürlichen Zisterne ansammelte. Die armen Wesen, tierisch, stumpf, dem Wahnsinn nahe, starrten vor Schmutz. Starb einer dieser lebendig Begrabenen, so scharrten seine Gefährten den Leichnam oberflächlich in den harten Geröllboden ein, wo die zahlreichen Aasgeier, die auf den nahen Höhen nisteten, ihn sehr bald wieder herauszerrten und als ekle Mahlzeit verspeisten. Eine furchtbare Luft erfüllte den Talkessel, in den man nur mit Hilfe eines langen Hanffaserstrickes gelangen konnte. Auf dieselbe Weise wurden auch stets die neuen Ankömmlinge in dieses offene Massengrab hinabgelassen.

Der Resident ließ sofort die unglücklichen Bewohner dieser grauenvollen Stätte herausholen und brachte sie sämtlich nach Jaipur. Alle folgten sie freiwillig. Schon wenige Tage der Gefangenschaft an jenem Orte hatten bei jedem einzelnen genügt, um ihn den Augenblick verfluchen zu lassen, in dem er sich freiwillig dazu verstanden hatte, sein Leben in dem „Jenseits auf Erden“ nach den Gesetzen zu beschließen. Doch die Reue kam zu spät. Aus dem Tale war ein Entweichen gänzlich ausgeschlossen.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Ein Jenseits auf Erden (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 11). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_Jenseits_auf_Erden.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)