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Walther Kabel: Ein Wiederfinden (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 9)

durch gläubige, hoffende Gedanken zu beschwichtigen suchte, sagte ihr auch, daß diese einst vor Liebesglück strahlenden Augen sich nicht mehr öffnen würden.

Um Mitternacht war der Stabsarzt zum letzten Male bei dem Kranken gewesen, der noch immer ohne Besinnung, bewegungslos und kaum hörbar atmend dalag. Müller hatte die Temperatur gemessen, hatte das Herz behorcht und war dann wieder gegangen, nachdem er ihr mit mitleidigem Händedruck zugeflüstert hatte: „Eines, liebe Frau Bieler, kann uns niemand rauben – das ist die Hoffnung. Vielleicht geschieht das Wunder, das diesen siechen Körper allein noch retten kann.“

Dann war sie wieder allein mit dem Sterbenden. Aber keine Träne, kein Stöhnen befreit mehr ihre schmerzzerrissene Brust. Vor dem niedrigen Feldbett hat sie sich auf die Kniee geworfen und ihr Gesicht in die weichen Decken gewühlt. Sie betet. Und ihre vor wahnwitziger Angst sich überstürzenden Gedanken flehen den Schöpfer an, daß er ihr doch dies Leben lassen solle. Unzählige Gelübde, wie nur eine solche Stunde sie eingibt, kommen über ihre bebenden Lippen, suchen des Schicksals Willen anders zu lenken.

***

So geht die Nacht vorüber. Der Morgen kommt mit bleigrauer Dämmerung, die durch die Spalten des Türvorhanges sich hineinschleicht in das stille Zelt, in dem neben der reuevollsten Verzweiflung noch immer das Hoffen wohnt. Noch immer liegt das junge Weib neben dem Lager des Kranken, hält seine Hände umklammert und schaut mit brennenden Blicken in das regungslose, verfallene Antlitz.

Draußen im Lager werden die ersten Geräusche

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Walther Kabel: Ein Wiederfinden (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 9). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1910, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_Wiederfinden.pdf/21&oldid=- (Version vom 31.7.2018)