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Walther Kabel: Ein berühmter Meineid. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 12, S. 212–215

Richter ein. Der Schneidermeister war noch niedergeschlagener als das erste Mal. Die Quittung hatte er nirgends entdecken können.

Der Richter befragte die Prozeßgegner wiederum nach dem genauen Sachverhalt und vermahnte sie ernstlich, ja die volle Wahrheit zu sagen. Aber jeder blieb bei seiner Behauptung. Nunmehr mußte der Kläger nach den damaligen Prozeßbestimmungen den Eid leisten. Heuberle sollte schwören, daß er Törning dreihundert Taler gegeben und diese Summe noch nicht zurückerhalten habe.

„Will Er diesen Eid leisten?“ fragte der Richter den Kläger, der neben dem Beklagten vor der Schranke stand.

„Jawohl,“ erklärte Heuberle.

„Dann leg Er seine rechte Hand auf das Kruzifix hier und spreche Er mir die Eidesformel nach. Bedenke Er aber genau, welche Folgen ein Meineid für Ihn haben würde.“

Heuberle hatte in seiner Rechten einen dicken Bambusstock mit goldenem Knopf, den er jetzt seinem Prozeßgegner mit der Bitte reichte, dieser möge ihm das Rohr doch für einen Augenblick abnehmen. Und dann leistete er den Eid, während Törning ihm gutmütig den Bambusstock hielt.

Hiernach wurde der Schneidermeister zur Rückzahlung des Darlehns verurteilt, da es durch den Eid des Klägers für erwiesen gelten mußte, daß die Schuld noch nicht beglichen sei.

Als der Wucherer nach diesem für ihn so günstigen Prozeßausgang das Gerichtsgebäude verließ, wurde er draußen auf der Straße von einer erregten Menschenmenge, die neugierig das Ende der Verhandlung abgewartet hatte, mit lauten Verwünschungen empfangen. Denn allgemein war man der Ansicht, er habe in dieser Sache mit vollem Bewußtsein einen Meineid geleistet. Um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, erhob Heuberle drohend seinen Stock. Da sprang aber auch schon ein junger Bursche auf ihn zu, entriß ihm das Bambusrohr und schleuderte es auf das Pflaster, so daß es in mehrere Stücke zersplitterte. Zu aller Erstaunen rollten eine Menge Goldstücke auf die Straße, die vorher, wie man jetzt sah, in dem hohlen Stock verborgen gewesen waren.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Ein berühmter Meineid. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 12, S. 212–215. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_ber%C3%BChmter_Meineid.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)