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Walther Kabel: Ein seltenes Frauenschicksal (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 5)

Schminken unkenntlich zu machen. Endlich war der heißersehnte Tag der Rache gekommen. Ich nützte einen unbewachten Augenblick, um als Bettler verkleidet mich ins Haus meiner Eltern zu schleichen. In einer Bodenkammer verbarg ich mich. Gegen Mitternacht schlich ich in das Schlafzimmer meines Bruders. Ich klopfte, flüsterte den Namen unserer alten Köchin und überlistete ihn so. Er schob den Riegel zurück und stand mit einem Nachtlicht in der Hand vor mir. Der Anblick der fremden Gestalt trieb ihn ins Zimmer zurück, er griff nach einer neben dem Bett liegenden Pistole. Ich gab mich zu erkennen. Was ich vorhatte, mochte er ahnen. Mit harter, laut schreiender Stimme befahl er mir, das Haus zu verlassen. Ich blieb. Da hob er die Waffe, um mich so hinterlistig zu töten, wie er meinen Geliebten ermordet hatte. Der Schuß ging fehl – und traf meine Mutter, die, durch Viktors lauten Schreien aufgeschreckt, aus dem gegenüberliegenden Zimmer herausgetreten war. Der dumpfe Fall des Körpers hinter mir und ein einziger Blick auf die regungslos Liegende gaben mir die volle Wahrheit. Das Schicksal hatte gesprochen. Was zu vollenden blieb, tat meine sichere Hand. – Die Leichenschau stellte fest, daß die beiden Toten jener Nacht durch Kugeln verschiedener Größe, durch die Schüsse zweier Pistolen, getroffen waren. Die Behörde vermochte die Vorgänge nicht aufzuklären. Vorsichtig genug nahm ich außer Geld und Schmucksachen auch Viktors Waffe mit. Keinen Augenblick meines späteren Lebens fand ich bereuenswert, was damals geschah.“

Ein Jahr später lernte Marguerite als Schauspielerin in Bordeaux, wo sie den Namen Helene Sauterre führte, den Oberst Charles Beauford kennen, der sie heiratete, obwohl sie ihm ihre Lebensgeschichte nicht vorenthielt.

„Mir, die ich Kinder über alles liebte, war Nachkommenschaft versagt,“ schrieb sie in ihrer Lebensbeichte. „Nach dem Tod meines Gatten wurde ich Krankenpflegerin und ging in ein Pariser Kinderhospital. Als der Krieg gegen Deutschland ausbrach, reiste ich mit einer Sanitätsabteilung nach Metz. Nach dem Frieden kehrte ich nach Paris zurück, wo ich im Kinderhospital meine alte Tätigkeit wieder aufnahm. Hier war es, daß ich auf den Gedanken geriet, ein Vermögen zu ersparen, das man für die geliebten Kleinen nach meinem Tode verwenden könnte. Das Erbe meines Mannes, das ich nie angegriffen, wovon ich nicht einmal die Zinsen verbraucht hatte, war dazu bestimmt.“

Kurz nach diesem Entschluß begann Marguerites Bettlerdasein in Lyon, wohin sie aus Liebe zur Stätte ihrer Kindheit und wegen der Erinnerung an jene Tage, wo sie mit Edward Sealstor kurze Zeit glücklich gewesen war, zurückgekehrt war. Im Schlusse ihrer Aufzeichnungen fand sich die Bemerkung, daß sie ihre Pension als Offizierswitwe seit einundzwanzig Jahren nicht mehr abgehoben und die Militärkasse in Paris angewiesen hätte, die jährlichen Beträge von 1700 Franken auf ihren Namen zurückzulegen und zu verwalten. Es erwies sich, daß diese Beträge auf 41 648 Franken angewachsen waren, so daß der Stadt Lyon zur Erbauung des von der „reichen Bettlerin“ gewünschten Kindergenesungsheims rund 181 000 Franken aufzuwenden möglich war. Der Wille der Stifterin wurde erfüllt. Im Juni 1913 konnte das Carrel-Haus seiner Bestimmung übergeben werden.

W.K.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Ein seltenes Frauenschicksal (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 5). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1916, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_seltenes_Frauenschicksal.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)