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Jonathan Swift übersetzt von Franz Kottenkamp: Ein sonderbarer Traum

ich auch junge Damen, die in einer Nacht solche Verwickelung von Liebesabenteuern träumten, daß man einen ganzen Roman davon hätte schreiben können. In der Jugend ist die Einbildungskraft noch frisch, weder mit Sorgen untermischt noch durch Leidenschaften bestimmt, welche sie größtentheils sonst verwirren und beunruhigen, z. B. Habsucht, Ehrgeiz u. s. w. Nun sagt man, daß alte Leute wieder zu Kindern werden: so bin auch ich im Artikel der Träume wieder zu meiner Kindheit zurückgekehrt. Meine Einbildungskraft befindet sich in behaglicher Ruhe, und wird weder durch Sorgen noch durch Habsucht und Ehrgeiz beschwert; so erlange ich den Vortheil, die wenige mir noch übrige Zeit zu verdoppeln, und vierundzwanzig Stunden täglich zu leben. Der Traum jedoch, den ich jetzt erzählen will, ist so wild, wie man sich nur denken kann, und durchaus dazu geeignet, den tiefen Denkern, die über den Schlaf philosophiren, vollkommen zu gefallen, ohne daß sich irgend eine Moral darin entdecken ließe.

Zufälliger Weise ließ meine Magd auf meinem Nachttische eines ihrer Geschichtenbücher (wie sie dieselben zu nennen pflegt) gestern Abend liegen; ich nahm dasselbe in die Hand, und fand es von impertinenten und sonderbaren Geschichten angefüllt, die für ihren Geschmack und für ihren Stand geeignet waren; es war darin erzählt von armen Mägden, die zu vornehmen Damen wurden und von Bedienten niedern Standes, die Prinzessinnen heiratheten. Unter andern Dingen fand ich auch die weise Bemerkung, daß ein Löwe einer wahren Jungfrau keinen Schaden zufüge. Als meine Phantasie mit diesem Gemisch von Unsinn gefüllt war, ging ich zu Bett, und träumte, ein Freund habe mich am Morgen

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Jonathan Swift übersetzt von Franz Kottenkamp: Ein sonderbarer Traum. Scheible, Rieger & Sattler, Stuttgart 1844, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_sonderbarer_Traum-Swift-1844.djvu/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)