Seite:Eine Bergfahrt in Süd-Tirol 35 02.jpg

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Stunden lange, wegen der Lawinengefahr fast unbewohnte Val di Genova zu durchwandern, das bei dem angeblich von Karl dem Großen erbauten Kirchlein San Stefano mit Edelkastanien beginnt und sich in fünf Stufen, die man nach und nach, theilweise ziemlich mühsam, über loses Granitgetrümmer und erratische Blöcke und durch kleine Gießbäche zu erklimmen hat, bis zu den Regionen des ewigen Eises erhebt.

An dem schönen, stolzen Fall des Nardisbaches vorüber, wo auch der Anstieg nach der Presanella beginnt, erreicht man, vielfach durch schönen Wald, die Malga di Bedole (Malga heißt ungefähr Alm), welche wegen ihrer Bergumrandung erst der sehr hochstehenden Sonne zugänglich wird. Hier erhebt sich die Klubhütte des Tridentiner Alpenvereins, und da wir unterwegs nur eine kurze Frühstücksrast gehalten hatten und noch drei Stunden ziemlich scharfen Steigens vor uns lagen, würden wir hier auf jeden Fall eine Pause haben eintreten lassen, auch wenn die Scenerie nicht eine über alle Maße großartige, ja in den Alpen wohl einzige wäre.

Im Rücken Wald, rechts und links mächtige, theilweise bewaldete Wände, vor uns die freundliche italienische Hütte und hinter dem prächtigen Lärchenwalde, der sie umgiebt, die Vedretta del Mandron (Vedretta = Gletscher), deren Eisstrom aus einem engen Felsschlunde hervorbricht und wie ein blauer Mantel über die Felsen herabhängt. Andere Gletscher schieben sich mit sanftester Neigung hinab in's Thal; hier hat man es mit einem jähen, steilen Absturz zu thun, und infolgedessen oberhalb der Absturzstelle mit einer fortwährenden Verwerfung, Spaltung und Berstung der in stetem Fluß befindlichen Eismasse. Der Gletscher bildet Blöcke, Würfel, Zinnen, Thürme, Pyramiden, kurz alle erdenklichen Formen, die in grenzenlosem Wirrsal durch- und übereinander liegen, und jede Nacht reißen neue gähnende Klüfte auf, jeden Morgen brechen Thürme donnernd zusammen. Das Eis blitzt bald silbern im Sonnenlicht, bald hat es blaue, graue und grüne Tinten; über dem Gletscherfelde aber erscheinen die Spitzen des Mandron alto, der Lobbia bassa und des Monte Menicigolo, der den zweiten Gletscher, die Vedretta della Lobbia, fast ganz verdeckt; erst vom Wege zur Leipziger Hütte aus wird er sichtbar und vervollständigt das gewaltige Bild. Und damit es in dieser selbst den Stolzesten erdrückenden Umgebung auch an der ernsten Mahnung nicht fehle, erhebt sich mitten auf der ebenen Alpe ein Kreuz zum Andenken an den unglücklichen Professor Mighetti, der in den Wäldern beim Botanisiren durch Absturz den Tod gefunden, sich "zerfallen" hat, wie der bezeichnende Ausdruck der Aelpler lautet.

Die italienische Hütte nimmt sich fast etwas kokett aus und gleicht eher einer Sommerfrische, als einer Schutzhütte, sie hat allerdings auch weniger auszuhalten, als der feste, ernste Bau, den die Sektion Leipzig drei Stunden höher neben die kleinen Mandronseen (in Tirol wird jeder Tümpel „See“, jede Kracke „Roß“ genannt, zur Ausgleichung dafür, daß Berge, wie der Brocken, noch als Col [Hügel] gelten) gesetzt hat, und in die man noch im Juni nur durch eins der Schießscharten ähnlichen Fenster gelangen kann, weil die Thür immer mit einer zolldicken Eiskruste versehen ist, die mit den Pickeln losgeschlagen werden muß. (Inzwischen hat man ein großes, einstöckiges Haus neben den alten Bau gesetzt, der nur noch als Führerunterkunft dient.) Neben dem Rifugio di Bedole haben die Trientiner eine Art Laube erbaut, hart am rieselnden Quell; wir waren boshaft genug, dieselbe „die Seufzerlaube“ zu taufen, denn ihre sonstige Bestimmung erschien uns unerfindlich. - Möglich, daß man an einem schönen Sommerabend in dieser Laube einen Romeo und eine Julia aus Mailand oder Brescia antrifft, die sich bei Mandolinengeklimper ihre Unzertrennlichkeit klar zu machen suchen. In der mit Lebensmitteln gut versehenen Hütte fehlte es auch nicht an Jagdgewehren, die wohl Führern oder Hirten gehören mochten.

Wir hatten den von der Sektion Leipzig erbauten schmalen, aber sicheren und an kritischen Stellen besonders verstärkten Pfad schon eine Stunde aufwärts verfolgt, der Wald hatte bereits aufgehört, und nur einzelne Stämme klommen noch an den Hängen empor, als mir der Zustand einiger verfaulter hohler Stümpfe dicht am Wege auffiel. Ich schenke solchen Stümpfen, weil sie häufig Käferherbergen sind, stets meine Aufmerksamkeit, und so musste es mich frappiren, daß ich in dieser Einsamkeit mehrere solcher Stümpfe mit größter Gewalt total auseinandergerissen und zerstört fand. Sollte hier vor einigen Tagen ebenfalls ein Käfersammler gewandert sein und mit dem Pickel in die morsche Welt hineingestöbert haben? Das war doch gar zu unwahrscheinlich; es fehlte mir aber an jeder anderen Erklärung, bis mir an einer feuchten und erweichten Stelle des sonst festen Weges der deutliche Abdruck einer Bärentatze auffiel. Die Fußspur solcher Sohlengänger ist so charakteristisch, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war. Nun begriff ich auch den Zusammenhang: Der Bär wechselte hier herüber und hatte auch die Stümpfe zerkratzt, um zu den innen hausenden Ameisenkolonien zu gelangen. Ich zeigte stumm mit dem Pickel auf den Abdruck der Tatze. „Sapristi – e’ l’orso!“ (“Teufel, der Bär!”) rief der Führer wie elektrisirt aus und entwarf sofort einen Jagdplan, der unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Pinzolo in's Werk gesetzt werden sollte und auch wirklich in's Werk gesetzt worden ist. Als wir drei Tage später den Stellwagen bestiegen, um nach Tione di Trento und dem Gardasee zu fahren, rückte ein volles Dutzend Jäger nach Bedole, um dem Bären das Lebenslicht auszublasen. Der Zug hat übrigens keinen Erfolg gehabt. Der arme Meister Petz ist vorläufig davor bewahrt geblieben, neben dem Schicksalsgenossen Platz zu nehmen, der uns in einem Zimmer der Dependence der „Krone“ gezeigt wurde und der, wie man uns erzählt, drei Jahre vorher im Val di Genova erlegt worden war.

Die immer großartiger und wilder werdende Szenerie ließ die Witze über ein mögliches Zusammentreffen mit dem Bären bald verstummen. Die einzigen lebenden Wesen, deren wir noch ansichtig wurden, waren ein paar Schneehühner, die wir aus einer Bodenvertiefung dicht neben dem Pfade aufscheuchten, und ein Rothschwänzchen, das die nächste Umgebung der Hütte mit seinem Gezwitscher erfüllte. Es war etwa drei Uhr, als wir die Hütte erreichten, deren man nicht früher ansichtig wird, als bis man fast vor ihr steht. Der Blick, den man von der Steinbank vor der Hütte auf den Mandron- und Lobbiagletscher hat, ist reicher Lohn für einen Tagesmarsch, und immer wieder kehrten wir aus dem Inneren der Hütte auf die Steinbank zurück und versanken in stummes Anschauen all’ der Herrlichkeit und finsteren Pracht. Die Führer hatten indeß Feuer gemacht und kochten Erbswurst, die sie doch der Polenta vorzogen.

Ich wählte aus den Vorräthen der Hütte noch eine Gulyaskonserve, ein Huhn hatten wir von Pinzolo mitgebracht, und so brauchten wir denn unsere Leibern keine Stiefmutter zu sein und konnten uns ausgiebig für die Strapazen des nächsten Tages stärken. Das Wetter war prachtvoll, der Himmel tiefblau und wolkenlos, die Fernsicht durch keine Spur von Dunst beschränkt; mich litt es also nicht in der Hütte, und da die nahe Cima di Presena nicht mehr zu erreichen war, so schlug ich den Führern vor, wenigstens bis zum Lago scuro (dem finsteren See) und in der Richtung des Passo dei camosci (Gämsenpass) emporzusteigen. Mein Freund, der das vom Fußansatz aufwärts etwas schmerzende Bein nach Möglichkeit schonen wollte, blieb zurück. Er wollte für's Hüttenbuch eine Skizze der Gletscher entwerfen, die, mit einer früheren verglichen, das Vorrücken oder Zurückgehen der Gletscher und die Verringerung oder Vermehrung ihrer Masse illustriren sollte. Ueber wüste Trümmer jeden Kalibers, die den Gedanken an einen Gipfeleinsturz nahe legten, stiegen wir, einen Wall nach dem anderen überkletternd, bis zu dem tintenschwarz und regungslos in der Abendbeleuchtung daliegenden See empor und jenseits desselben noch ein Stück hinauf, bis das Sinken der Sonne zur Rückkehr mahnte und der warme, rosige Hauch, der die stolze Spitze der Presanella umfloß, zum frostigen Weiß verblich. Eisig wehte es jetzt von den Gletschern herüber und man suchte gern die behaglich durchwärmte Hütte auf, um noch ein Glas Glühwein zu trinken und dann um 8 Uhr unter die schweren, wollenen Decken des Matratzenlagers zu kriechen. Das geschah aber erst, nachdem wir aus Insektenpulver eine chinesische Mauer um uns errichtet hatten, deren Ueberschreitung den braunen Springern, an denen es in diesen Hütten wirklich auch nicht fehlt, herzlich sauer hätte werden sollen.

Das sägende Schnarchen des jungen Führers ließ mich nicht einschlafen; ich habe nur Viertelstunden lang in leichtem Halbschlummer gelegen und war ganz zufrieden, als Giacinto halb 3 Uhr zum Aufbruch blies. Die Tour nach dem Adamello muss jedenfalls so zeitig angetreten werden, damit man den Gletscher wieder hinter sich hat, ehe die Schneebrücken, auf denen man die Spalten überschreitet, von der Sonne zu sehr erweicht sind, um die Last eines Menschen sicher zu tragen. Schlag 3 Uhr brachen wir denn bei Mondenschein auf, Giacinto mit der Laterne voran. Der Weg führte lange Zeit durch ein Trümmermeer, wie das oberhalb der Hütte; man wand sich zwischen Blöcken durch, balanzirte auf ihnen hin, überkletterte sie, glitt an ihnen herunter und setzte in jedem Falle den Fuß genau dahin, wo vorher der des Vordermannes stand - ein Fehltritt und eine Sehne war angerissen oder gedehnt und mit der Hochtour war es aus. Immerhin bleibt dieses vorsichtige Marschiren, diese gespannte Aufmerksamkeit auf jeden Schritt, den der Führer thut, etwas äußerst Ermüdendes, namentlich wenn Laternen- und Mondlicht einander die Herrschaft streitig machen. Voraus ging Giacinto, dann kam ich, als Dritter mein Freund, den Schluß bildete der zweite Führer; unsere Rucksäcke waren in der Hütte zurückgeblieben und die Führer hatten die ihrigen nach Möglichkeit erleichtert; sie enthielten nichts als eine Flasche Wein und etwas Proviant.

Endlich war die Steinkletterei vorüber und wir standen am Rande des Mandrongletschers. Die Laterne wurde ausgelöscht und zurückgelassen; von jetzt ab verbreitete die leuchtende Mondsichel genügende Helligkeit. Dafür wurden wir in der bisherigen Reihenfolge um die Brust angeseilt, eine Vorsicht, die bei Gletscherwanderungen unerläßlich ist. Werden die richtigen Entfernungen innegehalten und bleibt das um den linken Arm geschlungene Seil von Mann zu Mann schlaff, so mag immerhin Einer in eine verschneite Spalte stürzen. Die drei Anderen werden immer im Stande sein, ihn zu halten oder ihn wenigstens wieder herauszuziehen; ist das Seil straff gespannt, so kann der unerwartet Stürzende seine Nachmänner allerdings zu Boden reißen, und dann kann die Sache bedenklich werden. Der Gletscher war mit frischem Schnee bedeckt, in dem sich gut marschiren ließ; man benutzt so viel als möglich die Spur des Vordermannes und hält überhaupt Schritt. Vom Adamello noch keine Spur; der Corno bianco (das Weißhorn) verdeckt ihn vollständig. Der sanft geneigte Gletscher, über den die österreichisch-italienische Grenze läuft, wird von ziemlich viel Spalten durchsetzt, die aber nicht allzu breit sind und nur an den Enden grün auseinander klaffen. Oft und oft musste Giacinto, wenn er mit sondirendem Pickel die Schneebrücke sofort durchstoßen hatte und dieser in's Leere fuhr, an mehreren anderen Stellen probiren, ob der Schnee in der Spalte größere Dichtigkeit hatte – schließlich fand sich aber doch immer eine Brücke, die hielt. Oft und oft ging er wie auf Eiern über die Brücke und rief uns warnend ein „Adagio!“ (sachte!) zu. Man kann sich denken, wie gewissenhaft solche Mahnungen befolgt wurden. Einmal gingen wir auch bis an den Rand einer offenen Spalte, um einen Blick in die gähnende, grüne Tiefe zu werfen, die wie der Eingang zu der Eiskönigin unterirdischem Palaste sich aufthat - furchtsame Menschen mit schwachen Nerven thun aber besser, davon zu bleiben: man bringt sie sonst über keine Schneebrücke mehr. Die ganze Landschaft ist vollständig arktisch; am Nordpol kann es auch nicht anders aussehen, und Payer hat auf seiner Nordpolfahrt sicherlich so manches Mal an die Augusttage gedacht, in denen er die Adamello–Presanella-

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_35_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)