Seite:Eine Bergfahrt in Süd-Tirol 36 03.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

preßte dem starken, sehnigen Manne Thränen aus, und willenlos sank er der Seufzerlaube gegenüber auf einen Hackstock und lehnte den Pickel an die Wand. Daß es sich hier nicht um eine Kleinigkeit handelte, die mit etwas Willenskraft zu überwinden gewesen wäre, war von vornherein klar; ehe diese eiserne Natur streikte, mußte es schon schlimm kommen. Wenn wir den Schlüssel zur Hütte gehabt hätten, wäre die Sache nicht so bedenklich gewesen, wir hatten ihn aber in Giacinto's Händen gelassen, und so war guter Rath teuer, denn es stand nicht fest, ob dieser über Bedole zurück kam, oder einen Richtweg hinab in's Val di Genova einschlug. In diesem Falle konnte also ein Bivouac nöthig werden, und ich überlegte bereits, wie wir uns gegen die nächtliche Kälte schützen sollten; man benutzt in solchem Falle den Rucksack als Fußsack und bindet ihn an den Knieen zu. Unser Träger, dem die ganze dumme Geschichte sichtlich fatal war, erbot sich nun, nach der mehrere Stunden entfernten Sega (Sägemühle) zu laufen und dort ein Pferd, ein Maultier oder einen Esel zu requiriren, im Nothfall würde er wenigstens eine Schleife mitbringen, auf der wir meinen Freund bis zur Sägemühle transportiren könnten. Dort sei er mindestens unter Dach und Fach, und am nächsten Morgen könne von Pinzolo ein Reitthier geschickt werden, das ihn abhole. Mir leuchtete das ein, und eilfertig wollte der gefällige Mensch davon springen; ich mußte ihn erst auffordern, seinen Rucksack zurück zu lassen, der nicht blos den unseres Fußkranken in seinen weiten Schoß aufgenommen hatte, sondern auch mit einem ganzen Sortiment leerer Weinflaschen beschwert war, die sich im Bodenraum der Hütte vorgefunden hatten, und die als herrenloses Gut annektirt worden waren. So saßen wir denn einsam in Bedole. Ich holte Wasser am Quell; der kalte Umschlag um's Bein, an dem äußerlich nicht das Geringste zu bemerken war, wurde mit maschinenmäßiger Regelmäßigkeit fortgesetzt, und ich versuchte der Situation alle Romantik und allen Humor, die ihr innewohnten, abzugewinnen, um die Laune meines Reisegefährten nicht unter den Gefrierpunkt sinken zu lassen.

Ein paar Stunden sind uns so nicht allzu kurzweilig vergangen, dann erklärte der Marode plötzlich: „Ich glaube, wenn Sie mich unterstützen, kann ich, wenn auch langsam, wieder gehen!“ Das war natürlich willkommene Kunde, denn unseren Träger konnten wir nicht verfehlen, und Zeit wurde auf alle Fälle gewonnen. Da fiel mein Blick auf den sehr umfangreich gewordenen Rucksack des Trägers, den wir doch unmöglich im Stich lassen konnten, und fast hätte ich meinen menschenfreundlichen Einfall von vorhin bereut, denn das Lastentragen ist eines von den Dingen, in denen ich sehr wenig Uebung habe und für die mir wohl auch die Qualifikation abgeht. Mit etwas bedenklicher Miene stopfte ich also die vereinigten Rucksäcke in den meinen, der dadurch gigantisch-abenteuerliche Formen annahm, nahm mein Kreuz auf mich und trat den Weg zur Sega an.

Es ging besser, als wir Beide gedacht hatten, das Bein schmerzte nur beim Abwärtssteigen und das Thal verläuft von Bedole aus relativ eben und die Thalstufen sind ziemlich sanft. Wir hatten die Sega beinahe erreicht, als uns unser Führer in Schweiß gebadet entgegenkam, um zu melden, daß der Weg bis zur Mühle zu Fuß gemacht werden müsse, da keinerlei Reitthier und nicht einmal eine Schleife vorhanden sei. „Ho fatto snellsritt!“ (“Ich habe Schnellschritt gemacht!”) betheuerte er, des Kommandos aus seiner Dienstzeit sich erinnernd, und es war ihm wohl zu glauben, ja, hätte ich etwas Geistiges bei mir geführt, so würde ich ihm zur Belohnung einen “schnappa” kredenzt haben, für den ich sicher Gegenliebe gefunden haben würde.

Die Sägemühle war bald erreicht und der Müller kochte uns (mitten in der Mühle am offenen Feuer!) bereitwillig einen Kaffee, der nicht einmal an Bodensatz litt, brachte auch Brot, Speck und Butter herbei; die letztere war in ein Krautblatt geschlagen und so vortrefflich, daß Berthold Auerbach sie gewiß „thaufrisch“ genannt haben würde. Ich habe vielleicht in meinem ganzen Leben noch nicht mit solchem Appetit gefrühstückt, wie in dieser Sega, und das will schon etwas heißen, da selbst Hamburger Frühstücke in den Austerbuden am „Stintfang“ zu meinen Erinnerungen gehören. Uns gegenüber hatten wir einen Waldfriedhof, einen Wall von Baumleichen, ein Baumschlachtfeld - man suche sich den Ausdruck heraus, den man am bezeichnendsten findet für den Weg, den eine Lawine genommen, alle Stämme entwurzelnd, sie wie Schwefelhölzchen zerknickend und sie in wildem Wirrwarr durcheinander werfend. Der frische, grüne, im Winde wogende Wald war nun todt, grau und starr und bot ein entsetzliches, trostloses Bild der Verwüstung.

Eine Stunde vor Pinzolo, als mein Freund auf einem Stein an der Straße den kalten Umschlag erneuerte, sahen wir in der Ferne Giacinto und den Professor kommen; Letzterer war mit weit ausgreifenden Giganten- oder Giraffenschritten ein Stück voraus, und der Führer hatte Mühe, ihm zu folgen. Bald hatten sie uns eingeholt, überzeugten sich aber auch, daß ihr Marschtempo für uns unerschwinglich war und stiefelten also voraus. Bei San Stefano schlug uns der Träger reife Edelkastanien, deren Stachelhüllen den Boden bedeckten, von den Zweigen, und lange sahen wir dem geschäftigen Treiben der Frauen und Mädchen zu, die das welke Laub zusammenrechten und in große Säcke stopften, um es als Winterstreu in die Ställe zu führen. Von fern winkten bereits die Häuser von Pinzolo und erschienen uns förmlich großstädtisch. Der Abend sank hernieder, als unsere Pickel wieder über die Steinplatten im Hausflur der „Corona“ klirrten. Der Professor, mit dem ich über den Tiroler Aufstand von 1809 einen vorsichtigen Gedankenaustausch pflog, und ein eben so einsilbiger als eleganter Jüngling mit Krimstecher und Bädecker, den seine Lackstiefelettchen gerade bis zum Kirchlein San Stefano getragen hatten, bildeten die einzigen Genossen unserer Tafelrunde und hatten Gelegenheit, an meinem Freunde einen urgermanischen Appetit zu bewundern. Mit Giacinto und dem Bewirthschafter der Hütte, der mir einen schriftlichen Rapport an den Hüttenwart mitgab, tranken wir „un mezzo litro“ Rothen und besichtigten den ausgestopften Bären; dann wurden die Führer abgelohnt und die Rechnung beglichen.

Wir hatten in Pinzolo nichts mehr zu suchen, und der nächste Morgen entführte uns dem Val Rendena, daß wir mit dem Bewußtsein verlassen konnten, unsere bergsteigerische Aufgabe vollständig gelöst zu haben. –

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_36_03.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)