Seite:Eine Herbstfahrt in den Rosengarten 36 02.jpg

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Die Einrichtungen sind nicht überall genau die gleichen; da und dort wird ein kleines Eintrittsgeld erhoben, man hat wohl auch für verbrauchtes Brennholz, dessen Herauftransport umständlich und kostspielig ist, etwas zu entrichten, aber im Großen und Ganzen kehren die humanen Bestimmungen überall wieder und machen Tirol, in weit höherem Grade als die Schweiz, wo die Fremdenindustrie in einer schon nicht mehr schönen Blüthe steht, zum Ideal des fußwandernden Touristen, sehr zum Nutzen des kleinen, in so vieler Beziehung weit zurückgebliebenen Landes.

In größeren Sektionen, welche mehrere Hütten besitzen, ruhen die Angelegenheiten der Hütten, die sich schwer im Plenum verhandeln lassen, in den Händen eines besonderen Hüttenausschusses, der für jede Hütte einen Hüttenwart und einen oder mehrere Stellvertreter bestellt, welche dafür zu sorgen haben, daß die Hütte alle Zeit mit allem Erforderlichen (selbst mit Lektüre, Musikinstrumenten, Spielen usw. für etwa Eingeregnete oder Eingeschneite) versehen ist, daß die Wirthschaft ihre Schuldigkeit thut, und die Hütte regelmäßig mit frischem Brot, frischem Fleisch usw. verproviantiert wird.

In der ersten Hälfte des Oktober vorigen Jahres hielt ich mich in Bozen auf, in der Absicht, von dort aus verschiedene Dolomit-Touren zu unternehmen. Das ist etwas spät im Jahre und die Tage sind schon recht kurz, aber Frühling und Herbst sind im Uebrigen die beste Zeit für Südtirol und ich habe schon wochenlange Wanderungen um diese Zeit unternehmen können, ohne auch nur ein Wölkchen am tiefblauen Himmel zu gewahren. Diesmal freilich sah es bedenklich aus. Die Thäler hingen voller Wolken, es regnete unaufhörlich, und man bedurfte keiner besonderen alpinen Erfahrung, um sich zu sagen, daß es oben auf den Bergen ausgiebig schneien werde, und neuer, weicher Schnee ist ein tückischer Kunde, dem schon manches blühende Menschenleben zum Opfer fiel. Durch einen alten, guten Freund, den tapfern Johann Santner von Bozen, das A und O aller Steiger, die etwas im Gebiet des Rosengartens zu unternehmen gedenken (er hat diese wilde, bizarre Welt eigentlich erst erschlossen und so manche der drohendsten Zacken und Thürme dieser Muschelkalk-Riffe überhaupt zuerst bestiegen), war ich in eine Gesellschaft von Herbstfrischlern gerathen, die aus einer Weinkneipe in die andere zog, um so ihr Asthma, ihren Bronchialkatarrh, ihre Nervosität oder ihr Herzleiden zu beseitigen, und ich athmete erleichtert auf, als in dieser Gruppe von Fabrikanten, Bankiers, Verwaltungs- und Kommerzienräthen plötzlich der Hüttenwart der neuen Vajoletthütte der Sektion Leipzig auftauchte, der eher zu mir paßte und dem es um jede Stunde leid war, die er in Bozen verbummeln mußte. Er wollte mit Santner und dessen verheiratheter Tochter (auch eine Kletterin ersten Ranges) die Grasleiten- und Vajoletthütte inspizieren, die Kassen leeren, die Hüttenbücher abholen, und war sehr ärgerlich darüber, daß das heillose Wetter der Erfüllung dieser amtlichen Verpflichtungen vorläufig einen Riegel vorschob. Die Grasleitenhütte gehört ebenfalls der Sektion Leipzig und war im vergangenen Jahr durch einen umfassenden Erweiterungsbau bedeutend vergrößert worden, während man gleichzeitig unterhalb der Türme von Vajolett, einem Schmuckstück der Rosengartengruppe, die neue Vajoletthütte erbaut hatte. Mein neuer Bekannter war also Hüttenwart für die neue Hütte, aber zugleich Stellvertreter für die ältere, und sollte nun beide, die nur zwei Stunden von einander entfernt sind, vor dem Einwintern noch einmal besuchen. Er war also mein Mann und gestattete mir bereitwilligst, mich ihm anschließen zu dürfen, sobald der Regen aufhöre und die Tour möglich werde.

Zum Glück ging schon am Abend des kommenden Tages der Wind nach Norden herum, Santner erklärte, daß der nächste Morgen gutes Wetter bringen werde, und er behielt Recht. Blauer Himmel und Sonnenschein lachten am Morgen durch die Scheiben, und zwischen den Oleandern des Hotel Kreutner auf dem Johannisplatz wurde beim Frühkaffee beschlossen, am Nachmittag nach Blumau zu fahren, hinauf nach Tiers zu steigen, dort zu übernachten und am nächsten Morgen nach den Hütten aufzubrechen, die durch den Grasleitenpaß miteinander in Verbindung stehen.

Unsere bisherigen Kneipgenossen schüttelten die Köpfe, auf denen man den Mondschein in allen seinen Vierteln studieren konnte, und erklärten, daß sie um keinen Preis mitthun würden; es hätte sie aber auch Niemand dazu aufgefordert, denn was sollten wir mit solchen abgetakelten Lebemännern und ihren Entbehrungsbäuchen da oben im wilden Hochgebirge? Bis Tiers hätten wir sie vielleicht gebracht, nach Grasleiten schwerlich und nach Vajolett gewiß nicht – wir hätten sie denn tragen müssen, und für ein solches Vergnügen dankten wir natürlich. Zudem fehlte ihnen jede alpine Ausrüstung, und auch mit derselben hätten wir sie nicht brauchen können; schließlich hätte Einen von ihnen der Schlag gerührt, und wenn wir auch an der Verantwortung dafür leicht getragen hätten – wer setzt sich denn einer solchen Gefahr aus?

Unsere kleine Expedition, zu der sich fast in der letzten Minute noch ein andere Leipziger Herr gesellte, bestand aus sehr vertrauenswürdigen Elementen. Von Santner und seiner Tochter zu schweigen, die so ziemlich Alles durchgemacht haben, was man überhaupt in den Bergen erleben kann, und die mit allen Gefahren der Hochalpen und speziell der Dolomiten vertraut sind, waren wir alle abgehärtete, zähe und elastische Bursche, wenn auch längst nicht mehr zu den Jungen zählend, und wie sich später ergab, hatte Jeder wenigstens schon einmal in den Bergen in unmittelbarster Lebens- oder Todesgefahr geschwebt, war also verwendbar und zuverlässig. Selbst im Rosengarten war ich schon mehrmals gewesen, sogar im November, wo die Touren allerdings aufhören, ein Spaß zu sein.

Dicht hinter Blumau öffnet sich das Tierser Thal und die Tierser Ache stürzt sich schäumend und tosend in den Eisak, der der Etsch zueilt. Das enge, wilde Thal zieht sich stetig steil in die Höhe, aber es wandert sich gut auf dem neuen Sträßchen, das auf dem linken Ufer der Ache angelegt ist, während das alte, kaum mehr als ein Karrensteg, sich am rechten Ufer gehalten hatte. Wer den Weg an einem heißen Sommertage machen muß und obendrein bepackt ist, der hat gehörig zu schwitzen; an einem kühlen Oktoberabend macht sich das weit besser. Für Neulinge mögen die da und dort am Wege angebrachten „Marterln“, auf denen ein naiver Dorfkünstler dargestellt hat, wie Jemand abstürzt, in die angeschwollene Ache geräth, vom Blitz erschlagen oder von seinen eigenen scheu gewordenen Pferden zu Tode geschleift oder von einem stürzenden Baum erschlagen wird, etwas Unheimliches haben; der tiefe Ernst des rauhen Thales, zu dem der muntere, leichtsinnige Weinstock des sonnigen Etschthales schwer stimmen würde, wird aber durch ein solches gemaltes memento mori energisch hervorgehoben und ich möchte sie ungern missen. Ohne in dem Gasthaus, wo alles Fuhrwerk Wegzoll zu entrichten hat, „zuzukehren“, setzten wir unseren Weg fort, und als die Nacht sich auf die Häuschen und Hütten von Tiers herabsenkte, klirrten unsere Eispickel auf den paar Stufen, die zur „Rose“ emporführen, und die gute, dicke Frau Tschager kam den verspäteten Gästen schmunzelnd entgegen und ließ sich erzählen, daß wir am nächsten Tage zur Grasleitenhütte und dann über die Vajoletthütte nach Perra im Fassathal wollten beziehungsweise müßten.

„Ja mein!“ hieß es, „werden’s denn aber durch den Schnee kommen? Heut früh sein zwei junge Leut aus München, Studentle oder so was, hinauf, trotz alles Abredens, und haben nit einmal ’n Schlüssel zur Hütten verlangt, weil sie bis Abend in Fassa sein wollten. Proviant haben’s gnua mitg’nomma, aber wenn das nur gut ausgeht! I hab’ immer g’meint, daß sie umkehren und auf d’ Nacht wieder hier sein würden, aber’s hat sich noch nix spüren lassen und jetzt ist’s schon zu spät und sie fänden nimmer wieder heraus.“

Nun, wir beruhigten die brave Frau; die jungen Leute würden schon durchgekommen sein und säßen nun wohl bereits beim Rizzi in Perra und ließen sich die Forellen munden. So wohl wurde es uns nicht einmal; wir konnten ganz zufrieden sein, daß am selben Tage ein „Schöpsle“ geschlachtet worden war, so daß es wenigstens Fleisch gab.

Die „Rose“ ist, obgleich seit dem Bestehen der Grasleitenhütte Schritt für Schritt vergrößert und - wenn auch zaghaft - den Ansprüchen der Neuzeit angepaßt, immer noch eins von den echten, guten, alten tiroler Gasthäusern, in denen die Rechnung früh auf der Schiefertafel gemacht wird, und die noch recht lange so bleiben mögen. Hotels mit befrackten Kellnern, denen die Simpelfransen in die Stirn hängen, sind beinahe eine Beleidigung der wilden, ernsten, großartigen Natur, die sie umgiebt, und es soll ein derbes, handfestes Dirndl sein, das mir meine genagelten Bergschuhe tüchtig einfettet, damit ich nothfalls auch einmal durch einen Bergbach waten kann, ohne nasse Strümpfe zu bekommen – nicht ein verdrossener oder katzbuckelnder Hausknecht.

Sprungfedermatratzen sind natürlich ein unbekannter Luxus, auch fühlt sich die Bettwäsche naßkalt an, aber in solchen Höhen ist das nicht anders, da doch gelüftet werden muß, und es wird, wenigstens bis zum Eintritt des Winters, tüchtig gelüftet; die Leute sind weder luftscheu noch empfindlich und bei 10° R ist es ihnen schon ganz behaglich.

Nun, am Abend unserer Ankunft war tüchtig geheizt worden, und die Atmosphäre in dem niedrigen Zimmer ließ Manches zu wünschen übrig. Die Tiroler rauchen infolge des Tabakmonopols ein polizeiwidriges Kraut, und es ist mir immer äußerst bezeichnend erschienen, daß sie ihre Pfeifen Stinktiegel nennen. Natürlich waren auch verschiedene Führer da, darunter der Löwenhansl, ursprünglich ein Fleischer seines Zeichens, ein bärenstarker Mensch, der aber die Führerei auch aufzustecken gedenkt, da selbst seine Riesennatur den Strapazen auf die Dauer nicht gewachsen ist. Er hat sich inzwischen zum Maurermeister entwickelt, die Grasleitenhütte umgebaut, den Neubau der Vajoletthütte besorgt und den Bau einer Kölner Hütte am Tschagerjoch übernommen, wozu übrigens auch ein kernfester Mensch gehört, denn der Bauplatz der Vajoletthütte mußte zu Pfingsten aus dem Schnee geschaufelt werden, und das Uebernachten erfolgte in einer Art Höhle unter einem überhängenden Felsen, da nicht erst Baracken gebaut werden konnten und man nicht allabendlich hinunter nach Perra laufen mochte und früh wieder herauf.

Da sich der Hüttenwart in unserer Gesellschaft befand, der seine im August eingeweihte Hütte noch gar nicht kannte, obgleich er sie von Leipzig aus mit allem Nöthigen hatte versorgen lassen, so erschien es selbstverständlich, daß Hansl uns am nächsten Morgen begleitete. Der Aufbruch sollte ganz früh erfolgen und es war in der That noch ganz grau, als wir unser Frühstück einnahmen, das aus Kaffee, Tee oder Milch bestand; daheim kann man mich mit Milch jagen, in den Bergen ist sie mir ein Bedürfniß, gerade so wie fettes Fleisch, Speck usw.

Als unsere kleine Expedition sich in Bewegung setzte, waren die Aussichten auf einen schönen Tag sehr gering. Es hatte in der Nacht gefroren, war aber wolkig und trübe und man mußte mit der Möglichkeit eines Schneesturms rechnen; wir hatten allen Grund uns zu beeilen, d. h. keine überflüssigen Pausen einzuschieben, denn das zulässige Marschtempo ist ein für alle Mal gegeben – man kann nicht von demselben abweichen, ohne sich im Anfang zu übernehmen und nachher umzuklappen, so daß man für eine starke Erschöpfung nur einen Zeitverlust eintauscht, also doppelten Verlust erleidet.

Hinter Tiers, unweit der kleinen Cyprianskapelle, gabelt sich das Thal, um als „Purgametsch“ rechts nach dem Karrerseepaß und als „Tschamin“ geradeaus zu ziehen. Man kommt an dem Weißlahnbad vorüber, früher einem ganz primitiven „Bauernbadl“, wie sie in Tirol so häufig sind, jetzt einer modernen Sommerfrische, die auch hohen Ansprüchen genügen kann, und dann umfängt uns das Schweigen der Wald- und Bergeinsamkeit, nur unterbrochen von dem Rauschen der Ache, deren Bett mit riesigen Felstrümmern und entwurzelten Bäumen angefüllt ist. Bis zur Grasleitenhütte erinnert nichts mehr an das Treiben der Menschen, als da und dort ein kleiner Heustadl oder eine offene Ochsenhütte. Der Weg

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Rudolf Lavant: Eine Herbst-Fahrt in den „Rosengarten“. Goldhausen, Leipzig 1899, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Herbstfahrt_in_den_Rosengarten_36_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)