Seite:Eine Herbstfahrt in den Rosengarten 37 02.jpg

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lieber als Fleisch, jedenfalls lieber als ihre fade Polenta.

An eine lange Rast war auch hier nicht zu denken; Santner und der Löwenhansl trieben zum Aufbruch, denn es lag wie Schneesturm in der Luft, und von einem solchen wollten sich dieselben im Grasleitenkessel und während des Anstiegs zur Jochhöhe auf keinen Fall überfallen lassen. Ob wir freilich so weit kommen würden, erschien sehr bald äußerst fraglich, denn gleich hinter der Hütte hatte es dermaßen geweht und der weiche Schnee lag so massenhaft, daß Santner, der mit dem Pickel sondirend, vorausging, wiederholt bis an die Schultern einsank. Seine Tochter und der zweite Leipziger Herr waren geneigt, umzukehren und das aussichtslose Unternehmen aufzugeben, der Hüttenwart aber blieb unbeugsam. Santner und Hansl hatten guten Muth, und da ich mich ebenfalls schwer zum Umkehren entschließe, so wurde der Vorwärtsmarsch fortgesetzt, langsam zwar, aber unaufhaltsam. Als wir uns glücklich bis zum Grasleitenkessel durchgekämpft hatten, was allerdings ein saures Stück Arbeit war, besserten sich die Schneeverhältnisse bedeutend, aber dafür trieb der Sturm von links her Nebel- und Wolkenfetzen in den Kessel und spornte unsere Führer zu möglichster Eile, denn damit rückte die Gefahr, in einen Schneesturm zu gerathen, in bedrohlichste Nähe, wenn uns auch der sonst so gefährliche Nebel nichts anhaben konnte; hat man erst den Anstieg zum Paß erreicht, so kann man sich nicht mehr verirren. Der Paß wird hüben und drüben von himmelhohen Wänden flankirt und zwischen ihnen muß man eben bleiben, man mag wollen oder nicht. Dafür ist der Anstieg so steil und so langwierig, daß er manchen Schweißtropfen kostete, und hatten wir erst das Aufhören des Schnees freudig begrüßt, so wünschten wir uns denselben bald zurück, denn das Aufsteigen über gefrorenes Geröll, das dennoch unter dem Fuß nachgiebt, ist auch kein Kinderspiel. Man muß, um einen festen Halt zu bekommen, den vorschreitenden Fuß quer stellen; versäumt man das, so rutscht man wieder zurück. Und das Aufsteigen will kein Ende nehmen; man hat einen mächtigen Felsblock dicht unterhalb der Paßhöhe, der gewissermaßen das Ziel der Anstrengungen bildet, fort und fort vor Augen und meint zuletzt, man müsse in einer knappen Viertelstunde oben sein, aber aus diesem Viertelstündchen entwickelt sich eine scharfe Stunde. Ich war bei dem langen, hageren Leipziger Herrn, der für Umkehren gestimmt hatte, zurückgeblieben, weil er am langsamsten vorwärts kam und am unsichersten war, und weil es möglich schien, daß er der Unterstützung bedurfte. Dieser Fall trat freilich nicht ein und der Herr hielt sich ganz tapfer, doch blieben wir immer weiter zurück und Hansl mahnte, von seinem Mantel umflattert, unausgesetzt zur Eile und schrie uns durch den heulenden Sturm, der sich zwischen den Felswänden verfangen hatte, seine Direktiven zu. Als er von der Paßhöhe aus gewahrte, daß er sich um uns nicht mehr zu bekümmern brauchte, überschritt er dieselbe und eilte der Santner’schen Gruppe nach, und er war schon nicht mehr sichtbar, als wir endlich tief aufathmend auf der Paßhöhe standen, und hatte uns nur seine Fußspuren als Wegweiser zurück gelassen. Jenseits des Passes, das ganze Vajolettthal hinunter, lag nämlich wieder tiefer Schnee – vom Paß hatte es ihn über die Steile hinunter in den Grasleitenkessel geweht. Nun, das Schwerste war überstanden, selbst ein Schneesturm hätte uns nun nichts mehr anhaben können und unten in der Hütte erwartete uns ein behaglich warmes Zimmer und ein dampfender Tee. So gingen wir denn seelenruhig wieder an’s Schneetreten und erweiterten, in die Stapfen unserer Vorgänger fallend, dieselben zu wahren Elephantenspuren, die sich schön blau von der weißen Fläche abhoben. Im Vertrauen auf meine verhältnißmäßige Leichtigkeit lief ich wohl auch einmal, meine Last nach Kräften verringernd, zehn, zwölf Schritte neben den Spuren über den an der Oberfläche gefrorenen Schnee um plötzlich beim dreizehnten ganz unerwartet tief einzubrechen; dann hatte ich wieder dem Gefährten aus einer besonders tiefen Grube herauszuhelfen, kurz, es fehlte nicht an allerlei Abwechselung. Das ganze Bild war freilich düster, trübe, nebelhaft und verschleiert, denn der Himmel war grau und wolkig und die im Sonnenschein eines klaren Herbsttages entzückend bizarre und großartige Szenerie erschien eintönig und melancholisch. Zudem fehlte alle Fernsicht und die kleinen Menschlein, die sich zwischen den Felskolossen wie Ameisen abwärts abarbeiteten, empfanden auch nicht minutenlang die Versuchung, in einen jubelnden Juchzer auszubrechen und das Echo wachzurufen. Von alle den fabelhaften Farbenwundern, die ein herbstlicher Sonnenuntergang in dieser grandiosen Gebirgswelt auf der Palette hat, bekommen wir nichts zu sehen; nur erzählen konnte ich meinem Gefährten, wie man mit offenem Munde dasteht, wenn das riesige Schneefeld der eißgepanzerten Marmolada, wie von Himbeerröthe übergossen, plötzlich in’s Gesichtsfeld tritt.

Chi va piano, va sano!” (Wer langsam geht, geht sicher!) pflegen die italienischen Führer zu sagen, und fügen wohl hinzu: „e lontano!“ (und weit!). Auch für uns kam der Moment, in dem die Vajoletthütte vor unseren schneegeblendeten Augen auftauchte, und aus dem Schornstein stieg blauer Holzrauch in die dicke, neblige Abendluft. Santner’s Tochter, obwohl gehörig durchnäßt, hatte hausfraulich ihres Amtes gewaltet; in dem vertäfelten Gastzimmer war es bereits behaglich warm und der Herr Hüttenwart streichelte mit frostblauen Fingern den Ofen, der so prächtig funktionierte. Die Frage der Beheizung hochgelegener Schutzhäuser ist eine der allerheikelsten; ist sie befriedigend gelöst, so hat der Hüttenwart gewonnen, und entsagt auch der Küchenherd allen Streikanwandlungen und gestattet der Ofen, nicht bloß zu kochen, sondern auch zu braten, so bedeutet das Sieg auf der ganzen Linie. Allen anderen Uebelständen läßt sich abhelfen; ein Herd aber, der unermüdlich im Qualmen ist, dessen Platte jedoch so kalt bleibt, daß ein Frosch es zur Noth fünf Minuten auf ihr aushalten könnte, ist ein Kreuz für den Bewirthschafter und ein noch größeres für den unglücklichen Hüttenwart, der das unentbehrliche Möbel mit schweren Kosten erworben hat, womöglich als ein non plus ultra seiner Art, damit es, unter neuen beträchtlichen Transportkosten an Ort und Stelle gebracht, hartnäckig seinen Dienst versagte und der Anstrengungen aller zu Hülfe gerufenen Sachverständigen, Heizkünstler, Töpfer, Schornsteinfeger usw. gleichmüthig spotte. Ja, hätte man gute Steinkohlen für einen solchen Uebelthäter, aber es soll sich ja mit dem zähen Geäst der Legföhre heizen lassen, mit dem grünen sowohl wie mit dem dürren, auch dann, wenn der Sturm der Hochregionen heulend über die Hütte dahinbraust, als wolle er sie in ungestümem Anprall hinab in die Tiefe schleudern.

Die Hütte, die uns gastlichen Schutz bot und – ungeheure Mengen heißen, duftigen Thees, ist eine von den kleinen und bietet im äußersten Falle fünfzehn Touristen eine Lagerstatt; es sind nämlich sieben Betten und acht Matratzenlager vorhanden. Sie hat 4000 fl ö. W. gekostet, die Einrichtung ca. 1100 fl, und man kann wohl sagen, daß alle auf dem Gebiete des Hüttenbaues gemachten Erfahrungen hier mit sächsischer Gründlichkeit verwerthet worden sind. Die Lage zu Füßen der imposanten, furchtbar steilen Vajolettthürme, an die sich nur Dolomitkletterer ersten Ranges wagen dürfen, ist prachtvoll und die Besteiger der leichteren Rosengartenspitze kürzen den Weg bis zum Einstieg in die Felsen beträchtlich ab, wenn sie in der Vajoletthütte, statt in der Grasleitenhütte übernachten. Das hat seinen Werth, denn je frischer und ausgeruhter der Steiger ist, wenn seine eigentliche Arbeit beginnt, desto leichter wird er den Unfällen entgehen, die aus Ermüdung, aus dem Versagen der oft überschätzten Kräfte entstehen. Auch Verletzungen durch Steinfall werden desto sicherer vermieden, in je früher Morgenstunde das Klettern in den Rinnen beginnt; wenn die Sonne höher kommt und das Eis des Nachtfrostes wegleckt, kommen die vorher festgefrorenen Steine in’s Rutschen, die kleinen bringen die größeren, viele kleine auch einen ganz großen in Bewegung, und urplötzlich prasselt eine Steinsalve durch die schmale Rinne herunter, der man nur durch einen glücklichen Zufall zu entgehen vermag. Für viele von den Touristen, die das Rosengartengebiet, die Perle Südtyrols, queren, indem sie die in drei Tagen bequem zu Fuß abzuwickelnde Rundtour Eggenthal – Karrerseepaß – Grasleiten – Blumau oder umgekehrt machen, wird die Hütte freilich nur die Bedeutung einer Einkehr- und Erfrischungsstation haben; wer die Tour allerdings in zwei Tagen machen will, der kommt von beiden Seiten wohl nur bis zur Vajoletthütte, für ihn ist sie daher auch als Uebernachtungsplatz von Wichtigkeit; Viele ziehen ja schon aus Neugierde die Schutzhütte dem nächsten Thalwirthshause vor; sie wollen auch einmal in einem alpinen Schutzhaus geschlafen haben, um daheim davon erzählen zu können.

Wäre es nach mir und den Leipziger Herren gegangen, so hätten wir unseren Stab an diesem Tage nicht weiter gesetzt, sondern in der peinlich sauberen, freundlichen und ordentlichen Hütte übernachtet. Aber Santner und Hansl trauten dem Wetter noch immer nicht und meinten, das Sicherste sei, noch an diesem Abend Perra im Fassathal zu gewinnen, wenn auch das letzte Stück des Weges mit der Laterne werde gemacht werden müssen. So fügte man sich denn ihrer vorauszusetzenden besseren Einsicht und abwärts ging es nach den zahlreichen, verstreuten Sojalhütten, wo im Sommer viel Vieh weidet, und in den Schatten der Dämmerung aus dem Bereich der Felsen hinab auf die erste Thalstufe und in’s Bereich der Kultur. Santner leuchtete mit einer weißen Papierlaterne voran und im Gänsemarsch folgten wir ihm blindlings und urtheilslos auf allerlei abschneidenden Nichtwegen, über rauschende Bäche, durch finsteren Wald und an steilen Lehnen hinunter, nur das kleine Fleckchen erleuchteten Bodens vor uns im Auge, um keinen Fehltritt zu thun, der im Gebirge noch weit empfindlicher sich zu rächen pflegt, als im Flachland. Auch an vereinzelten Häusern, aus denen freundlicher Lichtschimmer uns grüßte oder eine halbverwunderte Stimme einen Abendgruß uns zurief, sind wir so vorübergekommen, um dann wieder in tiefe Finsterniß und auf ganz schmale, steile Pfade zu gerathen – kurz, man war von dem fortwährenden Wechsel und dem stumpfsinnigen Hinterdreintappen hinter der auf und ab pendelnden Papierlaterne förmlich wirr im Kopfe, als plötzlich eine breite Lichtfluth uns entgegenschlug und wir vor dem Gasthause des Antonio Rizzi in Perra standen. Es war zwischen sieben und acht Uhr Abends, und da wir um sechs Uhr früh aufgebrochen waren, so hatten wir, trotz nur ganz kurzer Rasten, zu einer Tour, die sich unter günstigen Verhältnissen in sechs Stunden durchführen läßt, reichlich das Doppelte gebraucht; in kürzerer Zeit wäre sie aber trotz aller Anstrengung kaum zu bewältigen gewesen, denn der Schnee verurtheilte uns zu einem Tempo, das garnicht in den Gewohnheiten und im Temperament der Betheiligten lag.

Man war nicht wenig erstaunt, so spät im Jahre und so spät am Tage noch eine so zahlreiche Gesellschaft aus dem Rosengarten einrücken zu sehen, und lustig anzusehen war es, wie man von allen Seiten warme Strümpfe und warme Hausschuhe herbeibrachte, damit wir unsere durchnäßten und förmlich durchweichten Bergschuhe von den Füßen brachten, die nun, um das Einschrumpfen zu verhüten, sorgfältig mit Heu ausgestopft und so an den warmen Küchenherd gebracht wurden. Dem Hüttenwart, den sie zum ersten Male in ihrem Leben erblickte, wollte des Wirthes zierliches Töchterlein Marietta, das im Sommer mit einer Magd die Bewirthschaftung der Hütte besorgt, eine besondere Ehre erweisen und brachte ihm ein Paar ihrer eigenen Pantöffelchen, die sich freilich als für ein Paar deutsche Infanteristenfüße viel zu klein erwiesen und sich neben den massiven Bergschuhen des Geehrten wie Puppenschuhwerk ausnahmen.

Santner und Hansl behielten mit ihrer Wetterprognose nur zu Recht. Schon während wir beim Abendessen saßen, stöberte und regnete es wild durcheinander, und so blieb es die ganze Nacht, so daß wir früh den Anblick einer vollständigen Winterlandschaft hatten. Es gehörte keine besonders lebhafte

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Eine Herbst-Fahrt in den „Rosengarten“. Goldhausen, Leipzig 1899, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Herbstfahrt_in_den_Rosengarten_37_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)