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Walther Kabel: Eitel bis zum letzten Augenblick. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 208–211

hatte, betrat das Schafott im Gegensatz zu den anderen Opfern jener furchtbaren Zeitepoche mit künstlich frischgerötetem Antlitz, und diese Farbe behielt dann natürlich auch das körperlose Haupt bei, was den Schreckensmann Robespierre zu der Bemerkung veranlaßt haben soll: „Seht, Danton steigt auch noch nach dem Tode die Schamröte über seinen Verrat ins Gesicht!“

Henriette Orleille[ws 1], eine der berüchtigtsten Giftmischerinnen des achtzehnten Jahrhunderts, die kaltblütig ihren Gatten, ihre Eltern und zwei Geschwister beiseite schaffte, war unzweifelhaft um das Jahr 1792 die schönste Frau Brüssels. Die besten niederländischen Maler jener Zeit bemühten sich um den Vorzug, die „Dame mit den Madonnenaugen“, wie sie allgemein genannt wurde, auf der Leinwand verewigen zu dürfen. Dann wurde sie eines Tages, kurz nach dem Tode ihres gerade in ihrem Hause weilenden Bruders, unter der Anklage verhaftet, die genannten fünf Giftmorde innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten vollbracht zu haben. Mit ihr zugleich ward auch einer ihrer glühendsten Verehrer, der Baron Lesserac, als ihr angeblicher Mitwisser und Helfershelfer festgenommen. Der Prozeß Orleille nimmt unter den Kriminalfällen aller Zeiten eine besondere Stellung ein. Das schöne Weib, das ihren dunklen Augen durch raffinierte Schminkkünste jenen seelenvollen Ausdruck zu geben verstand, erschien vor Gericht in prächtigen Kleidern und mit blassem, scheinbar von dem Bewußtsein der Unschuld völlig verklärtem Antlitz. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie sich endlich schuldig bekennen wolle, war ihre einzige Antwort ein todestrauriger, entsagungsvoller Blick. Die gegen Henriette Orleille zusammengetragenen Beweise hätten wohl jedem Richterkollegium genügt, und allgemein nahm man auch in Brüssel an, sie würde einstimmig zum Tode verurteilt werden. Es kam aber ganz anders. Sie wurde einstimmig – freigesprochen.

Die fünf Beisitzer des Gerichts hatten sich sämtlich in die raffiniert herausgeputzte Schöne verliebt, so berichtet wenigstens der Kriminalpsychologe Hindermann in seinem Werke „Der seelische Rapport zwischen Richter und Angeklagten“. Ja, es kam noch besser. Kaum zwei Monate später heiratete der

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Geschichte über Henriette Orleille wurde von Walther Kabel teilweise wortgleich auch in den Beitrag Sensationelle Kriminalprozesse eingearbeitet. Dieser erschien in: Deutscher Hausschatz, Illustrierte Familienzeitschrift, 37. Jahrgang Oktober 1910 – Oktober 1911, Seite 918–919.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Eitel bis zum letzten Augenblick. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 208–211. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1911, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eitel_bis_zum_letzten_Augenblick.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)