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dem Meßapparat nähert[1]. Danach kann man auf diesem Weg nicht leicht zu einem wirklich durchführbaren Experimentum crucis zwischen der Einsteinschen Annahme (D) und der Ritzschen Annahme (B) gelangen.


§ 6.

Man darf aber hoffen, auf irgendwelchen anderen Wegen zu einer deutlichen Entscheidung zwischen (D) und (B) gelangen zu können. Denn es gibt in der Tat solche Gebiete, in denen sich der Übergang von (D) zu (B) ganz grell bemerkbar machen mußte.

Zu eigentümlichen Folgerungen führt z. B. die Emissionstheorie bezüglich der Kinematik der vorderen und hinteren Front eines Röntgenimpulses[2]: Ein Elektron laufe von links nach rechts mit der Geschwindigkeit (z. B. gleich 0,9 ) und verliere diese Geschwindigkeit innerhalb einer sehr kurzen Bremsstrecke. Die retardierten Potentiale, die am Beginn der Bremsstrecke ausgesendet werden, breiten sich auf Kugeln aus, deren Mittelpunkte mit der Geschwindigkeit fortfahren, nach rechts zu laufen; für die retardierten Potentiale, die am Ende der Bremsstrecke ausgesendet werden, bleiben die Kugelmittelpunkte stehen. Verfolgt man die Ausbreitung dieser ersten und letzten Potentialkugeln, so sieht man leicht ein, daß in der Richtung nach rechts die Distanz zwischen ihnen mehr und mehr wächst, je weiter sie sich ausbreiten – nach links findet zunächst eine Annäherung statt, dann ein Überholen der früheren durch die späteren Potentiale (in der nächsten Nähe der Bremsstelle) und weiterhin ebenfalls wachsende Distanzierung –, die „Impulsbreite“ des Röntgenimpulses würde also in verschiedenen Entfernungen von der Bremsstelle verschiedene Größe haben, und zwar in der Entfernung von einigen Zentimetern schon die Größenordnung von einem Zentimeter.

Dieses Resultat ist natürlich unannehmbar. Eine überzeugende Reductio ad absurdum der Annahme (B) ist aber auf diesem Wege kaum zu gewinnen; denn es bleiben noch viele Auswege offen, z. B. die Annahme, daß die während des Bremsvorgangs ausgesendeten Potentiale zusammen schon eine physikalische Einheit bilden und sich mit einer mittleren Geschwindigkeit gemeinsam ausbreiten; oder irgendeine andere Modifikation der Hypothese über die Entstehung der Röntgenstrahlen.

Immerhin ist dieses Beispiel charakteristisch für einige Besonderheiten, die sich beim Übergang von (D) zu (B) ergeben.


§ 7.

Die obigen Ausführungen zeigen zumindest die prinzipielle Möglichkeit einer experimentellen Entscheidung zwischen dem Einsteinschen Postulat (D) und der Ritzschen Annahme (B). Stellen wir uns nun vor, es gelänge demnächst irgend jemandem, den Plan eines praktisch ausführbaren Experimentum crucis zwischen (D) und (B) zu finden. Welche Situation würde sich ergeben?

Die Anhänger der Ätherhypothese müssen wünschen, daß sich das Postulat (D) als erfüllt erweist.

Die Anhänger der eigentlichen Emissionstheorie müssen wünschen, daß die Annahme (B) sich bestätigt.

Die Anhänger der Einsteinschen Relativitätstheorie müssen wünschen, daß diesmal die Anhänger der Ätherhypothese gegenüber den Anhängern der eigentlichen Emissionshypothese recht behalten[3].

An Hand dieser Erwägungen kann man sich darüber vergewissern, in welchem Sinne Herr Einstein von seiner Relativitätstheorie sagt: sie könne die Hypothese eines „Lichtäthers“ entbehren, insofern für sie schon vollkommen das Postulat (D) und solche Annahmen ausreichen, wie die betreffs der Unmöglichkeit von Ausbreitungsgeschwindigkeiten größer als .

St. Petersburg, November 1911.

(Eingegangen 2. Dezember 1911.)     

  1. Die präzise Fassung der obigen Behauptung und ihr Beweis soll an anderer Stelle nachgetragen werden, weil sie mit größeren Umständlichkeiten verknüpft sind. – Effekte zweiter Ordnung lassen sich leicht angeben. Das einfachste Beispiel dürfte folgendes sein: Auf einen parabolischen Spiegel mögen ebene Lichtimpulse parallel zur Achse einfallen, von einer Lichtquelle stammend, die mit der Geschwindigkeit parallel zur Achse auf den Spiegel zuläuft. Dann sammeln sich die Strahlen nicht im Brennpunkt des Paraboloides (wie für ), sondern in einem Achsenpunkt, der um das Stück: [Brennweite] näher zum Scheitel des Paraboloides liegt. (Bei Einstein und Maxwell würde die Lage des Konvergenzpunktes unabhängig sein von der Geschwindigkeit, mit welcher die Lichtquelle sich dem Spiegel nähert.)
  2. Man vergleiche mit den folgenden Bemerkungen die Resultate, die Herr Sommerfeld aus der Äthertheorie des Röntgenimpulses gewinnt (diese Zeitschr. 10, 969, 1909; 11, 99, 1910; Bayr. Ak. 7. I. 1911.
  3. In der Tat, man bedenke, was es für die Einsteinsche Relativitätstheorie bedeuten würde, wenn sich plötzlich (D) als unrichtig und (B) als richtig erweisen sollte! Es würde bedeuten, daß die ganze Lehre von der Kontraktion der starren Körper, der Gangordnung der Uhren usw. usw. nichts anderes ist, als eine Kompensation für einen Fehler: eine Kompensation dafür, daß man trotz des Michelsonschen Versuches an der aus der Äthertheorie stammenden Annahme (D) festhielt.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Ehrenfest: Zur Frage nach der Entbehrlichkeit des Lichtäthers. Physikalische Zeitschrift, 13: 317-319, S. Hirzel, Leipzig 1912, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Entbehrlichkeit_des_Licht%C3%A4thers.djvu/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)