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uns nur in ihren Aufzeichnungen der heiligen Geschichte, die sie ihrem Volk prophetisch deuteten, schriftliche Denkmale hinterließen.

 5. Die Weissagungslitteratur grenzt sich wieder in Perioden ab. Die mittlere oder jesajanische ist die sog. klassische Periode, sie bezeichnet den Höhepunkt der Prophetie; von ihr unterscheiden wir die vorjesajanische von Obadja bis Hosea, die Zeit der kräftigen Anfänge und die nachjesajanische oder jeremianische, welche die in Jesaja beschlossene Fülle im einzelnen zur Entfaltung bringt. Die prophetischen Schriften haben in der Litteratur der andern Völker nicht mehr ihres gleichen.

 Die vorjesajanische Prophetie besteht gewissermaßen in Gelegenheitsschriften. Es sind bestimmte eng umgrenzte Aufträge, die die Propheten dieser Periode auszurichten haben, und demgemäß einzelne Seiten der Zukunft, die sie offenbaren. Die Sprache ist kräftig und gedrungen, oft dunkel und rätselhaft (Hosea).

 Jesaja eröffnet in seiner Prophetie, was ihren Inhalt betrifft, nicht bloß einzelne Blicke in die Zukunft, sondern er breitet die ganze Zukunft aus. Von der höchsten prophetischen Höhe aus überschaut er im Geiste den Entwicklungsgang der Geschichte der Welt und des Reiches Gottes durch die Jahrtausende bis in die äußersten Fernen, bis dahin, wo die Zeit in die Ewigkeit übergeht. Dabei rücken die Ereignisse zusammen, wie die Gipfel hinter einander liegender Bergreihen und die Prophetie ist perspektivisch; was er zusammenschaut, legt sich in der Wirklichkeit oft weit auseinander. Die Weissagungen des Jesaja sind ihrem Inhalt nach die allumfassendsten, deshalb ist er unter den Propheten der Prophet. Was aber die Form anlangt, so ist sie durchaus klassisch, voll selbständiger Kraft und vollendeter Schöne; seine Reden sind ungeachtet ihrer heftigen Strömung und des hohen Aufschwungs der Gedanken doch fein gegliedert und bilden meistens ein künstlerisch abgerundetes Ganze. „An die Stelle der heiligen Lyrik, in der sich bisher das religiöse Leben der Gemeinde ausgesprochen hatte, tritt durch ein gewaltigeres Eingreifen Gottes die prophetische Poesie mit ihrer Posaunenstimme, um das entschwundene Gottesbewußtsein in der erstorbenen Gemeinde wieder zu wecken.“ – Ihm verwandt in Form und Inhalt ist sein Zeitgenosse Micha, nach ihm noch Habakuk.

 Die letzte Periode der Prophetie ist durch Jeremia bestimmt. Ihre Eigentümlichkeit besteht darin, daß sie alle älteren Weissagungen in sich aufnimmt, weil sie nun ihrer Erfüllung zueilen; ferner, daß sie die ältere, zusammenfassende Weissagung nach bestimmten Seiten ausführt. Die Redeweise ist eine losere, gedehntere, oft zum schlichten Predigtton herabgestimmte; wir begegnen zahlreicheren, ausführlicheren Visionen, die prophetischen Gedanken verkörpern sich in veranschaulichenden Symbolen. Diesen Charakter tragen alle Propheten von Jeremia bis Maleachi.