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Kanon. Obwohl nun diese Botschaft nur eine ist, so haben wir doch vier Evangelien. Aber schon der h. Irenäus nennt diese vier Evangelien das „eine viergestaltige Evangelium“. Wir haben das Evangelium von Christo und seinem Reiche nach vierfachem Bericht. Das Verhältnis dieser Berichte zu einander hinsichtlich ihrer Entstehung ist auf sehr mannigfache Weise erklärt worden, und es ist äußerst schwierig, darüber etwas Gewisses festzusetzen.

 Von den Theologen des 18. Jahrhunderts haben etliche angenommen, es habe evangelische Urschriften gegeben, aus welchen die Evangelisten ihre Evangelien herausarbeiteten. Als wahrscheinlichere Erklärung der oft so auffallenden Übereinstimmung der drei synoptischen Evangelien in der Auswahl und Anordnung des Stoffs wie in der Einzeldarstellung – neben den nicht minder auffallenden Abweichungen in allen diesen Beziehungen – erschien jedoch die andere Annahme einer gemeinsamen Quelle in der mündlichen apostolischen Überlieferung. Diese Überlieferung habe sich im Vortrag vor der Gemeinde, was den Stoff und die Aufeinanderfolge des Erzählten betrifft, allmählich fixiert. So sei ein mündliches Urevangelium entstanden, welches die Synoptiker zu ihren Evangelien in Freiheit des Geistes in der Weise gestalteten, wie es der verschiedene Lehrzweck, der jedem vorschwebte, erforderte. Hieraus erkläre sich zur Genüge die Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Evangelisten. Daneben sei es Wohl denkbar, daß frühzeitig größere oder geringere Bruchstücke dieser apostol. Verkündigung schriftlich aufgezeichnet wurden, wie denn unzweifelhaft dem Lukas bereits solche schriftliche Quellen vorlagen Luk. 1, 1. – Neuerdings glaubt man mit Sicherheit annehmen zu dürfen, daß dem Evangelisten Markus das (aramäische) Matthäus-Ev. vorgelegen habe, das er bald exzerpiert, bald glossiert habe. (So lasse sich Mark. 12, 1–12 oder 6, 7–11 als Exzerpt (?) aus den betreffenden Abschnitten des Matthäus erkennen (Matth. 21, 28–22, 14; Matth. 10, 5 etc.); auch lehne sich Markus in den A.T.lichen Zitaten an Matthäus an.) Allein die Auffassung des Markus-Evangeliums als eines exzerpierten und glossierten Matthäus stimmt nicht zu der kirchlichen Überlieferung, nach welcher Markus die evangelische Verkündigung des Petrus wiedergegeben hat. – Daß Lukas schriftliche Vorlagen hatte, wissen wir von ihm selbst. Ob darunter das Markus-Evangelium war, ist bei des 3. Evangelisten mannigfacher Abweichung von der Reihenfolge der Begebenheiten in Markus doch recht fraglich. Eine direkte Benutzung des einen Evangelisten durch den andern ist nicht nachweisbar, auch, falls sie als in größerem Umfang erfolgt gedacht wird (Exzerpierung und Glossierung eines schriftlichen Urevangeliums) mit der schriftstellerischen Selbständigkeit, geschweige dem Glauben an die Inspiration der Evangelisten nicht mehr zu vereinbaren. Übrigens ist kein Gebiet der Einleitungswissenschaft mehr vom Dorngestrüppe grundloser Meinungen überwuchert, als die Frage nach der Entstehung der Evangelien und ihrem gegenseitigen Verhältnis.