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Kaisers; was alle in dieser Richtung dennoch verband, ein solches Verhältniss ermöglichte, die Satzungen der Kirche und ihre Sprache, gehörte keiner Nation vor der andern an, rührte von einer den Raum der einzelnen Nation, wie den des gesammten Reiches weit überschreitenden höheren Ordnung.

Das deutsche Reich, über die Nation hinausgehend und doch den weitern Rahmen einer gemeinsamen Kultur nicht erfüllend, war darum doch nichts weniger als eine unfertige oder krankhaft ausgewachsene Zwittergestaltung. So mag es einer Staatsweisheit erscheinen, welche den besten Staat erdenken und nach wohlgeordnetem, möglichst einfachem Plane verwirklichen möchte; ihr muss freilich das Verständniss fehlen für die anscheinend verwickelte, vielfach zusammengesetzte Fügung des Reiches, welche nicht erdacht, in welcher keine Theorie der Schule verwirklicht wurde, welche daher auch nach keiner Theorie der Schule gemessen seien will; deren Verständniss und richtige Würdigung von der Beantwortung der Frage abhängen wird, ob sie den damals gegebenen Verhältnissen, den zu lösenden Aufgaben entsprach, ob ihr Zerfall keine Lücke liess, ob die Form gefunden wurde, welche sie genügend ersetzte. Das Reich wurde gegründet von Herrschern und von einer Nation, welche ohne nachgedacht zu haben über die beste Gestaltung des Staates, um so leichter, wie es scheinen muss, diejenige fanden, welche den eigenen Bedürfnissen, wie denen weiterer Kreise am meisten entsprach: auf ihrer Bahn vom Stamme zum Königreiche, von diesem zum Kaiserthume sicher geleitet von einem unbewusst wirkenden richtigen Gefühle über den Umfang und die Gränzen der ihnen gestellten Aufgaben, geleitet durch die drängende Macht der jedesmal gegebenen Verhältnisse, mehr sich anschmiegend und wieder heranziehend, als planmässig umgestaltend. Ein staatlicher Verband, in solcher Weise erwachsen, dessen Bestand seiner Zeit die wichtigste Bürgschaft für jede höhere Ordnung des Welttheils war, dessen Lockerung alle Verhältnisse ins Schwanken brachte, dessen völlige Lösung nicht zufällig zusammenfiel mit der durchgreifendsten Zerrüttung aller Rechtszustände, mag immerhin in seiner eigenthümlichen Gestaltung manchen alten und neuen Formeln der Schule fremd gegenüberstehen; einer Erwägung aber, welche sich an die Wahrheit des geschichtlichen Lebens hält, welche sich bemüht, aus den Thatsachen selbst die in ihnen wirkenden Gesetze zu erkennen, wird es auch von vornherein nicht zweifelhaft sein können, dass gerade dieser eigenthümlichen Gestaltung eine gewichtige innere Berechtigung entsprochen haben müsse. Und diese dürfte sich darin ergeben, dass der Reichsverband gleichzeitig den Aufgaben eines Weltreiches und denen eines Nationalreiches gerecht zu werden hatte, dass ihm neben der Befriedigung der staatlichen Bedürfnisse der eigenen Nation zugleich die Aufgabe gestellt war, dem ganzen Umfange eines grossen verwandten Völkerkreises zum Haltpunkte zu dienen, ihn gegen

grosse Umwälzungen sicher zu stellen, ohne dennoch durch erzwungene

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Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_031.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)