Seite:Ficker Vom Reichsfürstenstande 040.jpg

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Der deutschen Verfassungsgeschichte zumal, welche für die Beantwortung jener Frage vor allem ins Gewicht fällt, dürfte es nur förderlich sein, dass nicht jeder Forscher sich berufen fühlt, das ganze Werk von den urgermanischen Wäldern ab einer neuen Bearbeitung zu unterziehen, dass er sich bescheidet hier oder da, wie sich der Anlass bietet, forschend einzugreifen, einzelne Punkte mit möglichster Sorgfalt festzustellen, von den neugewonnenen Anhaltspunkten aus dann prüfend Näherliegendes in den Bereich seiner Untersuchungen zu ziehen. Was für die gerundete Darstellung nothwendiger Ausgangspunkt ist, wird es nicht immer für die Forschung sein können. Ihre Hülfsmittel sind nirgends dürftiger und unsicherer, als für die Feststellung der Anfänge der geschichtlichen Entwicklungen; so redlich der Forscher auch bemüht sein mag, beim Weiterschreiten den Rückblick nicht zu vergessen, und da, wo die Weiterentwicklung dem angenommenen Ausgangspunkte nicht mehr zu entsprechen scheint, bei diesem selbst einer andern Auffassung Raum zu gewähren, so liegt doch immer die Gefahr überaus nahe, dass ein auf der Mangelhaftigkeit der ältesten Quellen beruhender Irrthum auch auf die Darstellung neuerer Zustände bestimmenden Einfluss üben möge, eine Gefahr, welcher derjenige weniger ausgesetzt ist, welcher nicht den ganzen Verlauf verfolgt, sich auf Einzelnes beschränkt und seine Ausgangspunkte da sucht, wo ihm reichere und zuverlässigere Zeugnisse von vornherein die Gewinnung eines festeren Haltes ermöglichen.

Allerdings kann es scheinen, als müsse es gerade auf dem Gebiete der deutschen Verfassungsgeschichte bei umsichtigem Vorgehen nicht so gar schwer seien, den verbindenden Faden im Auge zu behalten. Denn die deutsche Geschichte zeigt uns in ihrem ganzen Verlaufe nur Umgestaltungen, keine Umwälzung der Verfassung; die Reichsverfassung, welche erst in unserem Jahrhunderte zu Grabe getragen wurde, es war immer noch dieselbe, welche auch vor tausend Jahren schon bestand; gealtert freilich und sehr gealtert und kaum noch kenntlich nach den Veränderungen so vieler Jahrhunderte; aber niemand würde doch auch anzugeben wissen, wann eine frühere Verfassung aufgehört, eine neuere begonnen habe. Und was für die Gesammtheit der Verfassung gilt, gilt auch für ihre einzelnen Theile. Waren spätere Geschlechter geneigt, diese und jene Einrichtung in ihrem Entstehen an bestimmte Zeitpunkte zu knüpfen, sie auf die gesetzgeberische Thätigkeit einzelner Kaiser zurückzuführen, so hielten solche Annahmen durchweg die Probe kritischer Forschung nicht aus; es ergab sich vielmehr, dass die gesetzgeberische Thätigkeit der Reichsgewalt, wenige Ausnahmen abgerechnet, eine überaus geringe war. Zumal in den Jahrhunderten, in welchen das politische Leben des Reichs am reichsten entwickelt war; überblicken wir die ganze Reihe der Denkmale, aus welchen die Kunde der Verfassung jener Zeit zu schöpfen ist, so geben sie ganz überwiegend

Zeugniss wohl für das Bestehen, nicht aber für das Entstehen einer

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Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_040.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)