Seite:Finnisch-ugrische Forschungen 10 007.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Das gedruckte Kalevala allein wäre für die forschung eine ebenso sparsam fliessende quelle wie irgendein volkslied, das nur in einer form bekannt ist. Je mehr varianten, umso leichter lässt sich die urform herausfinden, umso leichter ist zu erkennen, welche veränderungen ein lied auf seiner wanderung von mund zu mund, von gebiet zu gebiet durchgemacht hat. Wenn ein lied mit hilfe der forschung in seine einfachsten urzüge zerlegt wird, stellt sich heraus, was modern ist, was aus alter zeit stammt, was eigenes, was entlehntes gut ist. Und lehngut ist für die forschung häufig noch bemerkenswerter als eigenes, denn die entlehnungen geben zu erkennen, auf welchen wegen sich die menschliche kultur fortgepflanzt hat. Die finnischen lieder können also ihresteils die wanderstrassen der menschlichen kultur und deren entstehung beleuchten, sie können aufklärende beiträge zur frage nach der entstehung der sog. volksepen, ja zu der frage liefern, wie das volkslied überhaupt entstanden ist, ob seine hervorbringung auf individual- oder kollektivproduktion oder auf beidem beruht. So verwertet ist also die finnische volksepik auch eine höchst bedeutungsvolle quelle für die kenntnis der vorzeit des finnischen volkes, wenn auch die darin begegnenden stoffe bis auf die gegenwart herabreichen. Sie ist zugleich eine quelle für die kenntnis des seelenlebens dieses volkes, ja der menschlichen psyche und ihrer äusserungen überhaupt. Ihre wissenschaftliche bedeutung ist also, ganz mit den augen der modernen wissenschaft gesehen, in wirklichkeit noch viel grösser als vom standpunkt der früheren zeit betrachtet.

Aber, so wird gefragt: ist denn also das Kalevala überhaupt ein volksepos oder ist es nur eine gelehrte dichtung Lönnrots? Es ist natürlich, wie ich schon andeutete, kein volksepos in dem sinn, dass es eine kollektive dichtung des volkes wäre und dass das volk das Kalevala einmal als ein solches ganzes, wie es uns in gedruckter fassung vorliegt,


Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_007.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)