Seite:Foerster Klassische Philologie der Gegenwart 09.jpg

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welche nicht selbst mit den Steinen umgehen können, Abgüsse der Inschriften und typische Reproduktionen der Buchstabenformen zugänglich macht, so hat auch die Paläographie in letzter Zeit auf dem Wege der Photographie und der Heliogravüre nahezu vollendete Faksimiles von Handschriften der verschiedensten Jahrhunderte zu Stande gebracht.

Nie ist die Lesung der Papyrusrollen und der Palimpseste mit solch entsagungsvoller Ausdauer, aber auch nie mit solchem Erfolge geübt worden; nie sind Handschriften mit so peinlicher Sorgfalt bis auf alle Kleinigkeiten untersucht, die in ihnen tätigen Hände so genau geschieden, die Ergebnisse der Vergleichung so vollständig mitgeteilt worden; nie ist man so beflissen gewesen von allen Autoren sämmtliche Handschriften zu erlangen, die Beziehungen zwischen diesen Handschriften zu ermitteln, einen Stammbaum derselben aufzustellen, den Archetypus zu rekonstruiren, den Abstand desselben von der Hand des Autors zu ermessen, die Schicksale eines Werkes, dass Nachleben eines Autors zu verfolgen, mit Einem Worte die Aufgabe der recensio umfassend zu lösen, mustergültige kritische Ausgaben herzustellen; nie ist man so bemüht gewesen die sämmtlichen Bruchstücke und Nachrichten über verlorene Werke oder nur ein paar Mal genannte Persönlichkeiten zu sammeln und zu sichten, Prosopographien anzulegen, Corpora wie der Inschriften und Denkmäler, so der Vertreter desselben Litteraturzweiges zu schaffen, Lexika und Indices aller Wörter eines Schriftstellers auszuarbeiten, sämmtliche Versionen eines Mythos durch die gesammte Litteratur und Kunst zu verfolgen, sämmtliche Kunst-Typen eines Gottes oder eines Symboles nach Zeiten und Kunst-Gattungen geordnet vorzuführen, die Erzeugnisse Einer Künstlerhand, wie die Schalen der attischen Vasenmaler Brygos, Duris, Euphronios oder des Canoleios von Cales zusammenzustellen und wo möglich in eine zeitliche Abfolge zu bringen; nie hat man so versucht die Bedeutung eines staatsrechtlichen Ausdruckes oder einer Formel durch eingehendste Untersuchung sämmtlicher Stellen zu gewinnen.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_09.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)