Seite:Foerster Klassische Philologie der Gegenwart 21.jpg

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das öffentliche und häusliche Leben der Alten, vor allem aber die Auslegung der Litteratur- und Kunstwerke. Denn man kann den Alten Aberglauben, ihrer Politik hier und da Engherzigkeit und Selbstsucht, einzelnen Staatsmännern Schwächen, ihrem Leben gewisse Flecken, ihren wissenschaftlichen und technischen Bestrebungen Unvollkommenheiten nachsagen: die Werke ihrer Poesie und Kunst strahlen in hellstem und reinstem Glanze. Ihre Auslegung muss daher den Mittelpunkt alles philologischen Unterrichts bilden. Eine Vorlesung über eine griechische Tragödie wird selbstverständlich vom Leben des Dichters, den Einrichtungen der Bühne, der Feststellung des Textes zu handeln haben; nicht aber wird sie ihre Aufgabe lösen, wenn sie nicht vor allem die Tragödie als ganzes würdigt im Verhältnis zur Sage und deren Behandlung durch die Vor- und Nachwelt, zu den Ideen der Zeit und des Dichters selbst, zuletzt aber auch nach ihrem rein menschlichen Gehalte. Und ähnlich ist es mit der Erklärung eines lyrischen Gedichts, einer Rede, eines philosophischen Dialogs. Und in noch höherem Masse gilt dies von den Werken der bildenden Kunst, in welchen das Griechentum für alle Zeiten schlechthin vorbildliches geschaffen hat. Zwar wird auch eine Vorlesung über ein Kunstwerk von Auffindung, Erhaltung, Material, Entstehungszeit, Schule, Bedeutung und Bestimmung zu reden haben, aber auf halbem Wege würde sie stehen bleiben, wollte sie nicht nach Winckelmanns Vorbilde in dem Kunstwerke eine Aeusserung desselben griechischen Geistes nachweisen, welcher die homerischen Gesänge, die Lieder des Alcäus und der Sappho, die Tragödien des Aeschylus, die Dialoge Platons schuf, wollte sie dasselbe nicht auch nach seinem rein menschlichen Gehalte würdigen, an einer Niobe beispielsweis das Ringen des Stolzes und des Schmerzes der Mutter, an den attischen Grabreliefs den Geist seelenvoller Trauer, für welche der Tod nichts Bitteres bat, an den attischen Grabvasen den Geist ehrfürchtiger Pietät vor den Todten, an den attischen und tanagräischen Terrakotten den Geist beglückter

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Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_21.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)