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2) Jeder zufällig erhöhete Ton, so wie auch das Semitonium Modi kann der Regel nach nicht verdoppelt werden, weil der erhöhete Ton seiner Natur nach aufwärts steigen muß. Ist er verdoppelt, so muß er doppelt aufsteigen, folglich Octaven machen. Bach verdoppelte wirklich sehr oft nicht nur zufällig erhöhete Töne der Scala, sondern auch die Semitonia Modi, und machte doch keine Octaven. Solche Fälle finden sich gerade in seinen allerschönsten Werken. – Nicht als Uebertretung, sondern mehr als Erweiterung einer Regel könnte angesehen werden, daß er

3) der Meynung war, und darnach arbeitete, daß auf einem liegenden Grundtone alles angeschlagen werden könne, was im ganzen Tonvorrath in allen drey Klanggeschlechten vorhanden sey. Diese Sache gehört sonst eigentlich unter die so genannten Orgelpuncte, die gewöhnlich nichts anders als verzögerte Schlüsse sind. Bach hat sie aber auch im Laufe seiner Stücke angewendet, wovon besonders die letzte Gique seiner so genannten englischen Suiten ein merkwürdiges Beyspiel ist. Anfänglich will diese Gique gar nicht klingen; sie wird aber nach und nach immer schöner, und das, was man bey noch unvollkommenem Vortrag für hart und rauh gehalten hat, fängt allmählich an, immer weicher, sanfter und angenehmer zu werden, bis man am Ende sich nicht satt daran hören und spielen kann.

Mit der eigenen Art von Harmonie, von welcher ich bisher geredet habe, hängt nun auch Bachs Modulation zusammen, die nicht minder von eigener Art ist. Der Begriff von Harmonie und Modulation läßt sich kaum trennen, so nahe sind beyde mit einander verwandt. Und doch sind sie verschieden. Unter Harmonie muß man nehmlich den Zusammenklang der verschiedenen Stimmen, unter Modulation aber den Fortgang derselben verstehen. Modulation kann also auch in einer einzigen Stimme statt finden; Harmonie aber nur in vielen. Ich will versuchen, mich deutlicher zu erklären.

Bey den meisten Componisten findet man, daß ihre Modulation, oder wenn man lieber will, ihre Harmonie langsam fortschreitet. Bey sehr stark besetzten Musiken an großen Plätzen, wie z. B. in Kirchen, wo der große Ton nur langsam verhallen kann, zeugt diese Einrichtung unstreitig von der Klugheit eines Componisten, der seinem Werke gern die möglichst vortheilhafte Ausnahme verschaffen will. Aber bey der Instrumental- oder Kammermusik, ist jene langsame Fortschreitung wohl kein Beweis von Klugheit,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Nikolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Hoffmeister & Kühnel, Leipzig 1802, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Forkel_Bach_1802_Seite_28.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)