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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Stirn durstig aufwärts gerichtet, als sehne sie sich nach einem kühlenden Tropfen von oben.

Stepan Nikolaitsch war zusammengezuckt, eine seltsame Unruhe kroch prickelnd durch seine Glieder.

„Er kommt wohl zu deiner Mutter, Krisch“ – murmelte er leise – „da ... da bin ich ja eigentlich überflüssig.“

Der Knabe mochte die Unschlüssigkeit in der Haltung des Volksschullehrers herausgefühlt haben. Mit neugierigem Blinzeln blickte er Stepan Nikolaitsch ins Gesicht und fragte unvermittelt: „Fürchten Sie sich vor Vater Nikiphor?“

Der kleine Mann zuckte unwirsch die Achseln. „Fürchten! Weshalb sollt ich mich dem fürchten! Frag nicht so dumm, Krisch.“

Aber mit dem Instinkt des Kindes hatte Krisch das Richtige getroffen. Stepan Nikolaitsch fürchtete sich in der Tat vor dem gewaltsamen Manne. Seine sensitive Natur empfand jedesmal einen Choc, wenn er ihm gegenübertrat. Er hatte es bisher nur nicht eingestanden.

Nachdenklich hefteten sich seine Augen auf den Boden. Er hatte in seinen Büchern, die er aus seiner Heimatstadt Brjansk mitgebracht hatte, etwas über Medien, persönlichen Magnetismus und suggestive Gewalt gelesen – daran mußte er jetzt denken, und es fiel ihm ein, daß er in der Gesellschaft gewisser Menschen sich leichter und freier und klüger fühlte, – anderen gegenüber empfand er einen gewissen Druck, der sein ganzes Selbst lähmte und gleichsam mit Klammern umfing. Noch nie aber hatte er

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/109&oldid=- (Version vom 1.8.2018)