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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

in seinem Volke angekämpft, angekämpft gegen Trägheit, Aberglaube und Gleichgültigkeit ... und was hatte er geerntet? Spott und Feindseligkeit von den Bauern, die den Städter in ihm mißachteten, Mißtrauen und Verständnislosigkeit von den Seinen. Die kleine Schwester war groß und hübsch geworden und man hatte sie gegen seinen Willen mit einem ärmlichen kranken Gemüsehändler verkuppelt. Seinen einzigen Freund, einen jungen Schreiber aus Brjansk, einen Hitzkopf voll sozialistischer Ideen, hatte die Polizei aufgestöbert und auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt – da war eine große Hoffnungslosigkeit über Stepan Nikolaitsch gekommen und er hatte sich nach den baltischen Provinzen versetzen lassen.

Müde und teilnahmlos hatte er sein hiesiges Amt angetreten, müde und teilnahmslos war er seither geblieben. Nur ein zehrendes Heimweh nagte an seiner Seele und wuchs von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Dazu gesellte sich ein bitterer Vorwurf: warum war er nicht daheim geblieben? Da hätte er doch wenigstens Jemanden gefunden, dem er in seiner eigenen Sprache sein Leid hätte klagen können und der ihn verstanden hätte. Er hatte die traurige Wahrheit noch nicht erkannt, daß er zu jenen Einsamen gehörte, die überall und unter allen Umständen Einsame bleiben, weil sie es nicht vermögen, aus sich herauszutreten, weil es ihnen an der zuversichtlichen Kraft und dem Selbstbewußtsein gebricht, die allein dem Schicksal gewachsen sind.

Stepan Nikolaitsch strich sich über die Stirn und stöhnte.

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/124&oldid=- (Version vom 31.7.2018)