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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Schuljugend meine ich natürlich, wechselt ja auch von Klasse zu Klasse.“

„Aber dann habe ich doch ein dauerndes Heim!“ rief das junge Mädchen mit glänzenden Augen. „Ich habe mein eigenes Zimmer, mein Zuhause, aus dem mich niemand vertreiben kann, mein eigenes Kopfkissen, meine eigenen Möbel!“ Es klang beinahe triumphierend.

Armes Kind! dachte der Mann mitleidig. „Wie anspruchsvoll sind doch wir Männer im Vergleich dazu!“ sagte er laut. „Ist solch ein bescheidenes Zukunftsbild nicht gar zu bescheiden? Ein eigenes Heim, wie Sie es sich ersehnen, habe ich schon längst, doch stelle ich mir unter meinem Heim etwas ganz andres vor. Eine liebe Frau, glückliche, gesunde Kinder – das ist’s, was ich unter einem Heim verstehe.“

Sie lächelte fein. „Gewiß,“ sagte sie, „warum sollten Sie nicht? Sie sind ja ein Mann.“

„Und ein Krüppel,“ fügte er bedächtig hinzu.

Nun mußte sie hell auflachen. „Verzeihen Sie,“ bat sie, „ich bemerkte vorhin, daß Ihr Knie ein wenig steif ist; da können Sie aber unmöglich das tragische Wort ‚Krüppel‘ auf sich an­wenden.“

„Und doch bin ich viele Jahre einer gewesen,“ beharrte er ernsthaft. „Jahrelang habe ich sitzend in einem Rollstuhl ver­bracht. Die lustigen übermütigen Spiele einer Knabenjugend kenne ich nur aus der Anschauung, nicht aus persönlicher Er­fahrung

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/13&oldid=- (Version vom 1.8.2018)