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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

In stummem Entzücken blickte der Volksschullehrer in das blühende junge Gesicht. Noch nie glaubte er etwas so schönes, so gütiges gesehen zu haben.

„Sie sind so schön, so gut, so außerordentlich ... ich finde keine Worte“ ... murmelte er verwirrt.

Wieder lachte sie ihr helles klingendes Lachen. „Ich will Ihnen etwas sagen, Stepan Nikolaitsch, – ich bin gar nicht gut, ich bin bloß frei – freier als die Anderen.“

Sie wurde ernst und ein kindlicher sehnsüchtiger Ausdruck flog über ihre Züge. „Ich möchte gern gut sein, so im großen, verstehen Sie, – aufopfern möcht’ ich mich, eine große gute Tat tun, für etwas Großes leiden, ja sterben, – aber mich nicht täglich mit all dem kleinlichen Kram herumplagen! Das macht so müde, so ungeduldig, und ich bin eine große Egoistin und hasse das Langweilige.“

Versunken lauschte Stepan Nikolaitsch ihren Worten. Es schien ihm, als spräche seine eigene frühe Jugend zu ihm, als höre er seinen verschickten Freund Wladimir reden. Hatte er nicht selbst ähnliche Anwandlungen gehabt? Sterben für eine große Idee – ja, das ließ sich hören! Aber nach Sibirien verschickt zu werden ohne weiteres Beweismaterial als ein paar verbotene Schriften, – aber ein kleinliches, gleichsam abgestricktes Leben führen ohne großen Inhalt, wo sich Tag an Tag wie Masche an Masche reihte – das tötete langsam und machte stumpf und

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/134&oldid=- (Version vom 1.8.2018)