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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

sein Bett. Dann setzte er sich zu ihm und streichelte ihn sanft.

Die runden Bubenaugen waren starr auf Stepan Nikolaitsch gerichtet. Plötzlich barg Krisch den Kopf in die Kissen und brach in ein jämmerliches Schluchzen aus.

„Krisch, mein guter Krisch,“ murmelte der junge Mann, „ja sieh, sein Mütterchen zu verlieren ist eine bittere Sache. Jeden triffts einmal, früher oder später, – da gibts nur eins: ein guter ordentlicher Mensch werden, damit dein Mütterchen droben im Himmel, eine Freude an dir hat.“

Verschämt wandte Krisch das Gesicht ab, aber seine Tränen flossen noch lange. Still saß Stepan Nikolairsch bei dem Knaben, streichelte ihn und sah mit seltsam glänzenden Augen durchs Fenster hinaus ins Weite, in eine lichtere glücklichere Zukunft. Jetzt rührte sich das Kind nicht mehr und leise zog er die Hand zurück und stand auf – da fühlte er sich von zwei mageren Armen umfaßt und Krisch preßte ihm einen tränennassen Kuß auf die Hand.

„Sie sind gut, ich hab Sie lieb, Stepan Nikolaitsch.“

Als hätten die beiden, der Volksschullehrer und sein Schüler, einen Orden bekommen, so trugen sie seither die Köpfe. Etwas war in ihnen beiden frei geworden, eine neue Entwicklungsphase hatte für beide begonnen – und somit trug jeder seinen Orden.

Fräulein Wally hatte Recht gehabt: sie verstand es mit ihren Verwandten umzugehen und setzte alles durch, was sie wollte. Jetzt wollte sie, daß man im Hause des Veterinärarztes

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/137&oldid=- (Version vom 11.12.2022)