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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

ist er kein Mensch ohne Charakter, – er hat nur einen anderen Charakter als Sie.“

So! Jetzt hatte sie’s ihm gründlich gegeben! Nachträglich erschrak sie vor ihrer eigenen Kühnheit, ließ den Kopf sinken und wurde blaurot.

Vater Nikiphor verstummte. In ihrer Einfalt hatte Matriona Fadejewna den Nagel auf den Kopf getroffen. Der kleine Lehrer schlüpfte ihm wie ein Aal unter den Fingern durch, langsam und sicher entglitt er ihm und auf einmal wurde er für Vater Nikiphor eine beachtenswerte Persönlichkeit. Er beschloß, ihn sich zurück zu erobern und seinen Zwecken dienstbar zu machen. In finsterem Brüten saß er schweigend da.

Stepan Nikolaitsch war verliebt – das stand bei ihm fest. Daß es aber eine tiefe und reine und todesstarke Liebe war, die dem Lehrer Licht und Sonne und neues Leben gab, das ver­mochte der Geistliche in seinem brutalen Egoismus nicht einmal zu fassen.

Stepan Nikolaitsch liebte, wie unverdorbene, einmal gebrochene Menschen lieben. Er liebte über sich selbst hinaus, liebte sich zur Freiheit durch und wuchs an seiner Liebe empor. Die Liebe hatte ihn, nicht er sie gepackt.

Auch Fräulein Wally war ihm in der Seele gut. Zu jung, zu beweglich, zu egoistisch um die Tragweite seiner Liebe zu fassen, war sie doch ehrlich genug, sie zu fühlen und sich mit der freu­digen Eitelkeit eines schönen Mädchens darin zu sonnen. Ein

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/142&oldid=- (Version vom 1.8.2018)