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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Sie sich als Geistlicher gegen die Insulte dieses tollgewordenen Plebejers nicht besser schützen können.“

Darauf nahm er ein Buch zur Hand, wandte beiden Geistlichen den Rücken, setzte sich behaglich in einem Lehnstuhl zurecht und begann leise vor sich hinzupfeifen.

Vater Nikiphor stand da, als habe er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Er hob beide Arme, als wolle er sich auf den Edelmann werfen, dann ließ er sie wieder sinken, raffte sich mühsam zusammen und stürzte krachend zur Tür hinaus. „Das sollst Du mir büßen, Du Aristokratenhund!“ murmelte er zwischen den Zähnen.

Bleich vor Wut langte er im Flecken an, schloß sich ein und ließ sich zwei Tage nicht blicken. Er hatte sich krank gemeldet.

In aller Harmlosigkeit übernahm Stepan Nikolaitsch den abgesagten Religionsunterricht des Popen und wanderte am Nachmittag um vier Uhr leichten Herzens zu Fräulein Wally.

Er konnte es gar nicht erwarten, dem schönen geliebten Mädchen in die Augen zu sehen, und heute hatte er eine Überraschung für sie. Nächtelang hatte er sich gemüht und gequält, den „Erlkönig“ auswendig zu lernen, um sie damit zu erfreuen, und nun konnte er ihn und brannte wie ein Schulknabe darauf, ihr das Gedicht vorzutragen.

„Erreicht den Hof mit Müh und Not –
In seinen Armen das Kind war tot.“

flüsterte er vor sich hin. Da stand er auch schon vor der Türschwelle.

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/148&oldid=- (Version vom 1.8.2018)