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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

hinaus auf die Straße. Er hatte vergessen von der Familie Abschied zu nehmen.

Der Sonntag kam und Stepan Nikolaitsch war natürlich zur Stelle. Aber Fräulein Wally konnte er keinen Augenblick allein sprechen und aus der Stunde wurde nichts. In der Mitauschen Gegend waren Unruhen ausgebrochen, in Libau und Windau gärte es, ein Baron war meuchelmörderisch erschossen worden, rohe Kirchenschändungen wurden vom flachen Lande aus gemeldet. Das ganze Haus des Veterinärarztes befand sich in Erregung. Dazu kam, daß Wally aus dem Falkenfelsschen Schloß mit Privatnachrichten über die empörenden Vorfälle versehen war und sie wichtig vortrug. Frau Doktor Treller war auch erschienen und hing begierig an Wallys Lippen.

„Das wäre Alles nicht soweit gekommen, wenn die Russifizierung uns das Volk nicht verdorben hätte!“ sagte sie giftig.

Eine schwüle Stille trat ein. Hastig begann Fräulein Wally von etwas Anderem zu reden. Der kleine Volksschullehrer war aufgestanden. Er fühlte es – in diesem Hause war kein Platz mehr für ihn. Er war ja Russe! War er nicht mit schuld an den Leiden der baltischen Provinzen?

Einen flehenden Blick warf er auf Wally, den Blick eines treuen geprügelten Hundes. Dann verabschiedete er sich stumm.

„Nächsten Sonntag, lieber Stepan Nikolaitsch!“ sagte Fräulein Wally ermutigend und drückte ihm fest die Hand.

Empfohlene Zitierweise:
Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/158&oldid=- (Version vom 1.8.2018)