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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Die Kugel war durchs Herz gegangen. Mit hintenüber geworfenen Armen lag der Baron auf dem Rücken. Ein leises Zucken rann durch seine Glieder. Er war tot.

Die Joppe färbte sich langsam rot, und in breiten schweren Tropfen sickerte das Blut auf den weißen Schnee.

Stepan Nikolaitsch stand mit hängenden Armen vor seinem Opfer und betrachtete es lange. Der Revolver entglitt seiner Hand.

„Ein schöner Mann!“ sagte er endlich halblaut in traurigem Ton. „Arme Wally, vergib ...“

Dann riß er sich los von dem Toten und schritt langsam wie im schweren Traum in den Flecken zurück. Er war unsäglich müde.

In seiner Stube lag ein Brief. Er kannte die Schriftzüge. Mechanisch öffnete er das Kuvert und las:


„Lieber Freund Stepan Nikolaitsch!
Ich hatte es Ihnen schon vor einigen Tagen sagen sollen, – ich fand nicht den Mut dazu, denn es fällt mir nicht leicht, Ihnen einen Schmerz zu bereiten. Bitte vergeben Sie mir, Stepan Nikolaitsch. Als ich Ihnen sagte, daß ich Sie lieb hatte, da kannte ich mich selbst nicht. Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist. O, vergeben Sie mir, wenn Sie können. Seit vier Tagen bin ich mit Herrn von Röhren, dem Haus­lehrer des Barons, verlobt.     Ihre Wally.“


Das Blatt entsank seiner Hand. Schwer fiel sein Kopf auf die Tischplatte. Ein Seufzer der Erleichterung kam tief aus der

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/175&oldid=- (Version vom 31.7.2018)