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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Glückstraum ein. Konnte ich erst gehen und stehen, so gab es vielleicht eine Möglichkeit, die Steifigkeit meines Beins zu verdecken. Ich machte ein gutes Abiturium, und dann – ja, dann kam das bittere Erwachen. ‚Ich bin mit Dir zufrieden, mein Sohn,‘ sagte mein wortkarger Vater in seiner strengen Art, und es klang so, als verkündige er mir eine bittere Strafe. ‚Es ist an der Zeit, daß du dir die dummen Schauspielerflausen aus dem Kopf schlägst. Ein lahmer Schauspieler, das ist ein Unding, und ein Rollenfach für Lahme wie ein Helden- oder Liebhaberfach gibt’s einfach nicht. Dagegen bist du als Theologe am besten gegen dein Ungemach gewappnet, du kannst es seelisch und geistig überwinden und dir eine hervorragende, angesehene Stellung schaffen. Zudem weißt Du, es ist mein Herzenswunsch, daß die unterbrochene Reihe der Theologen unserer Familie[WS 1] in dir eine würdige Fortsetzung finde.‘ So mein Vater. Und ich muß ja zugeben, daß er von seinem Standpunkt recht hatte. Aber er rechnete nicht mit dem heißen zurückgedrängten Künstlertriebe eines leidenschaftlichen Jünglings. Ich fiel in eine tiefe, schwere Bewußtlosigkeit, und als ich erwachte, war ich ein gebrochener Mensch. Ich studierte Theologie, ich ward ein Musterknabe; ich tat alles, was man von mir verlangen konnte, ich machte so­gar ein Examen um das andre – aus Pflichtgefühl, ohne jegliche Freude an meiner Wissenschaft – machte sogar meinen Kandidaten und trat auf die Kanzel zur Probepredigt. Doch da wurde mir das Ungeheure klar, das ich zu begehen im Begriff war: ich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Famile
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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)