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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Regenvogel. Sieh doch, nun schläft das Brüderchen, – wie’n Engel im Himmel sieht er aus. Hast du ihn geschlagen? Wenn du deine Sünde nicht gestehst, erzähl’ ich dir mein Lebtag nichts mehr.“

Die runden Kinderaugen hingen sehnsüchtig an den Lippen der Großmutter. Ein heftiger Kampf malte sich in dem trotzigen kleinen Gesicht. „Wirst’s nich Mutter sagen?“ fragte die Kleine vorsichtig.

„Ne, ne, – diesmal nich, ... gesteh’ nur.“

„Gekniffen!“ stieß Darthe kurz hervor.

„Ach, du Höllenbraten, du siebenjähriger!“ ereiferte sich die Alte. „Ist das ein Kreuz mit den unvernünftigen Kindern, ist das ein Kreuz! Wai Gottchen, Gottchen erbarm dich doch über uns! Und ich muß hier hilflos auf dem Strohsack liegen, kann kein Glied rühren und dir nicht mal eine ordentliche Birkenrute schneiden! Peitsche hast du verdient, nicht bloß Ruten! – Wirst’s wieder tun, sag’, du kleines Ungetüm, wirst’s wieder tun – wie?“

Darthe knitterte nachdenklich ihre Schürze zusammen. „Ne!“ murmelte sie, „aber nu erzähl’ auch, Großmutter – vom Regenvogel!“

Die Alte seufzte, blickte zur verräucherten Decke und begann: „Es war einmal eine Zeit, da gab’s kein Wasser auf der Erde, keinen Fluß, keinen Bach und keinen See. Nur ein dunkles weites Wasser, rings um die Erde herum, und das war bitter und salzig – und man nannte es das Meer. Aber süßes

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/191&oldid=- (Version vom 1.8.2018)