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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

hervor. Verstohlen wischte sie sich die Augen. Plötzlich stand sie auf und ging in die enge Kajüte hinunter.

Sie blieb lange unten. Endlich vernahm sie, daß das Dampfrad langsamer und wie in giftigem Zorn lauter aufschlug, die schrille Dampfpfeife kreischte dröhnend, und ruhiger schütterte das griesgrämige Fahrzeug auf ein grünes Ufer los.

Vor dem winzigen Kajütenspiegel strich sich Claire die Haare zurecht, zog den Schleier herab und eilte die Treppe hinauf. „Sind wir schon in Annenburg?“ fragte sie mit unbewußter Steifigkeit.

„Dies ist Garosen, eine Station vor Annenburg,“ erwiderte Ernst Philippi höflich. Ihn schien der winzige Flecken mehr zu interessieren als seine Reisegefährtin.

Der Steg wurde hastig auf das Ufer geschleudert, hin und wieder tönten lettische Zurufe, das Schiffsfaktotum setzte einige Körbe mit Kohl und Kartoffeln ans Land, dann erschien eine dicke altliche Dame, echauffiert und mit einer halboffenen ledernen Reisetasche, und begab sich auf das Deck der ersten Klasse. Ihr folgte ein schüchterner junger Mann, er trug einen Handkoffer.

„Daß Sie das nicht wissen,“ begann die Dame laut und ungeniert, „daß Pastor Berger der beste Prediger weit und breit in der Runde ist! Ja, wo haben Sie denn ihre Ohren?“

Claire horchte auf.

„Ich bin ja erst seit kurzem hier in der Gegend, gnädige Frau,“ stotterte der junge Mann, über und über errötend, „da

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)