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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

Wahrheit kommt es diesen Hetzern nicht an, die wird beliebig gebogen und gebrochen, und so erfinden sie die schauerlichsten Geschichten, die nur allzugern geglaubt und nachgesprochen werden. Liest man die lettischen Hetzblätter, so sollte man meinen, unser Bauer seufze unter einem unerträglichen Joch, und dennoch ist er erwiesenermaßen unvergleichlich besser gestellt als der russische Bauer mit seinem Parzellensystem. Aus meiner Knaben- und Studentenzeit – – ich war damals oft auf dem Lande – weiß ich noch recht gut, wie freundschaftlich, ja geradezu patriarchalisch oft das Verhältnis zwischen dem baltischen Adel und der Bauernschaft war. Aber es gärt ja in ganz Rußland, der unglückselige Krieg hat das übrige getan, die Bestechlichkeit der russischen Beamtenwirtschaft ist geradezu sprichwörtlich, und es ist so einfach und bequem, die Deutschen, die ja nie in Rußland ganz heimisch geworden sind, wenigstens hierzulande für die allgemeinen Mißstände verantwortlich zu machen. Der Deutsche steht zwischen Russen und Letten isoliert und hilflos da, folglich heißt es: Nieder mit dem Deutschen!“

Claire hatte aufmerksam zugehört. „Ja, aber verzeihen Sie,“ warf sie ein, „die baltischen Deutschen sind aber auch von einer unerträglichen Arroganz. Ich darf das ja sagen, da mein Vater Livländer ist. Wenn man in Petersburg eine hochmütige Person bezeichnen wollte, so sagte man kurz und bündig: so hoch­mütig wie eine baltische Baronin. Das ging selbst bis in die Hofkreise hinauf. Ich habe ja auch viel mit russischen Aristokraten

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/31&oldid=- (Version vom 1.8.2018)