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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

unendlich weit sind wir von der maßvollen Freiheit der alten Griechen und Römer! Nur der, der gehorchen gelernt hatte, durfte zu befehlen wagen!“

Ernst Phlippi hatte sich in Eifer geredet. Gespannt hörte Claire zu.

„Ich habe mich bisher wenig um Politik gekümmert,“ sagte sie. „Wir Balten sind eigentlich keine Politiker.“

„Aber treue Untertanen und ehrenwerte Männer,“ sagte er. „Haben Sie jemals gehört, daß sich in Dorpat, solange man uns unsre deutsche Sprache ließ, Nihilisten oder Sozialdemokraten breit machten?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Und jetzt!“ sprach er bitter weiter. „Was ist aus dem blühenden Städtchen geworden? Unsre Aula ein Versammlungsort für politische Brandredner, unsre stillen Straßen voll verwilderter, halb verhungerter russischer Studenten! Die medizinische Fakultät, früher eine Blüte der Wissenschaft, gilt jetzt nichts mehr. Unsre Mediziner der siebziger und achtziger Jahre brauchten in England kein neues medizinisches Examen zu bestehen; jetzt genügt das „Jurjewsche“ Examen nicht mehr, sie müssen es in England noch einmal machen. Unsre tüchtigen deutschen Professoren – wo sind sie hin?“ Er seufzte und blickte schwermütig in die friedliche dämmernde Landschaft hinein.

Eine Windmühle mit riesigen Flügeln erhob sich wie ein dunkles Gespenst auf der Wiese. Schattenhaft glitten die gewaltigen

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)