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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

vergoldeten Kreuz. Halb entblätterte Kastanien standen im Kranz ringsumher. –

Sechs Wochen waren vergangen. Claire fühlte sich im Pastorat Kronenthal merkwürdig heimisch. Ihr ganzes Wesen war leichter und freier geworden. Wie beschwingt ging sie mit leichtem Schritt durch die weiten Räume des alten Hauses, ihre Augen leuchteten, ihre Stimme klang hell und freudig, ihr klares Antlitz mit dem beseelten Ausdruck sah mutig und vertrauend in die Zukunft. Die kleinen Mädchen hingen an ihr wie die Kletten, und auch einen großen Teil ihrer freien Zeit widmete sie den Kleinen.

Von Ernst Philippi sah sie nicht viel. Kaum eine Stunde täglich waren sie zusammen. Er hatte ihr die drohenden Wolken, die sich auch in der Nachbarschaft zusammenzogen, nicht verheimlicht, und sie war es, die ihn veranlaßte, den Pastor auf seinen Amtsfahrten zu begleiten. So kam es, daß Ernst Philippi seinen Freund von einer neuen Seite kennen und schätzen lernte. Keine körperliche Müdigkeit seiner zarten Natur hielt Robert Berger von seinen Pflichten zurück, keine Einförmigkeit in seinem Beruf lähmte seinen Eifer. Mit einem glücklichen Humor wußte er auch der Prüfung von Abcschützen eine interessante Seite abzugewinnen oder bei ehelichen Zwistigkeiten durch eine schlagfertige überraschende Wendung die Streitenden zu verblüffen und all­mählich zu versöhnen. Mit bäuerlichen Schlaumeiern verkehrte er scheinbar wie mit seinesgleichen und gewann sie doch wieder

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/56&oldid=- (Version vom 31.7.2018)