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für sich in Anspruch nahm und so allmählich verknöchern und verkümmern ließ. Nach unten hin blieb der Bauernstand in einer stumpfsinnigen Rückständigkeit stecken, der Fabrikarbeiter spielt in dem industriearmen Land ohnedies nicht die Rolle wie bei uns und verschmilzt auch politisch und gesellschaftlich vielfach mit dem herrschenden Bourgeois. Nach oben hin aber vermochte der französische Bürgerstand nicht jene Oberschicht aus sich heraus zu entwickeln, deren jeder Staat zur Führung bedarf. Was statt dessen im letzten Jahrhundert unter jeder Regierungsform immer wieder entstand, als Pariser Gesellschaft, als „Tout Paris“, ist ein wahlloser Haufe von Glücksjägern, Spekulanten, politischen Abenteurern, eine Handvoll Spreu im Wind, deren oberster Grundsatz stets nur das Geldverdienen ohne sittliche oder gesellschaftliche Hemmungen war. So gedieh jene allgemeine Pariser Fäulnis, die aus dem sogenannten Hirn der Welt eine Weltkloake machte. Unter dem Präsidenten Grévy und seinem betrügerischen Schwiegersohn, der übrigens schon den erfreulichen Namen Wilson führte, brachte der ungeheure Skandal des Panama-Prozesses diese innere Zersetzung des bürgerlichen Frankreichs vor aller Welt ans Licht, wie ebenso die Dreyfus-Händel die Gebrechen des militärischen Frankreichs enthüllten.

Dieses zweite Gesicht Frankreichs, neben dem Bürger der Soldat, neben der Demokratie die Armee, nannte sich im Frieden stolz: „la grande muette“, die große Stumme, als Zeichen, daß sie sich, nachdem zweimal mit ihr bei Waterloo und Sedan Frankreich zusammengebrochen war, von den politischen Geschicken des Landes fernhielt. In der Tat finden wir unter den französischen Heerführern, die uns jetzt gegenüberstehen, z. B. hier den Marquis de Castelnau, einen strenggläubigen Katholiken aus altem Adel, dort in Saloniki den General Sarrail, der ein eingeschriebenes Mitglied der sozialistischen Partei Frankreichs ist.

Aber es ist bei dem welschen Charakter klar, daß eine französische Armee nicht immer „die große Stumme“ sein kann. Ihre Unterordnung unter die Jobber- und Journalistenherrschaft von Paris führte zu einem Mißverhältnis der wirklichen Macht. Sie sehnte sich – und das kann man einem Soldaten nicht verdenken – nach einem festen Oberhaupt im Krieg und Frieden. Statt dessen ereignete es sich z. B., als der Verfasser dieses Vortrages im Dezember 1904 in Paris war, daß der damalige französische Kriegsminister öffentlich im Parlament von einem Abgeordneten eine schallende Ohrfeige erhielt, ohne daß etwas anderes darauf erfolgte als sein Rücktritt. Dieser Kriegsminister aber war allerdings eigentlich seines Zeichens ein ehrsamer Fondsmakler an der

Empfohlene Zitierweise:
Rudolph Stratz: Frankreich (Vortrag von Rudolph Stratz). Kriegs-Presse-Amt, Berlin 1917, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Frankreich.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)