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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5

gegenüber bekundet. Möge man doch endlich einsehen, daß mit noch so harten Bestrafungen und Ächtungen, wie Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, eine geschlechtliche Veranlagung nicht ausgerottet, auch nicht einmal eingedämmt werden kann. Wenn mit harten Strafen etwas zu erreichen wäre, dann wäre es bereits im Mittelalter gelungen, ein sittliches Eldorado zu schaffen. Wer einmal Gelegenheit hatte, im Preußerschen Museum die in Spiritus aufbewahrten Embryonen in Augenschein zu nehmen, der wird unmöglich feststellen können, ob sich die fünf oder sechs Monate alten Embryonen nach der männlichen oder weiblichen Seite entwickeln werden. Da die Natur bisweilen bei Schaffung der Menschen sehr unregelmäßig zu Werke geht, so entstehen männliche Wesen mit weiblichen Neigungen und weibliche Wesen mit männlichen Neigungen. Wer, wie das häufig von Unwissenden geschieht, darüber lächelnd die Nase rümpft, bezeugt, daß ihm für anormale menschliche Beschaffenheit das Verständnis fehlt. Mit demselben Recht wie Leute über anormale Veranlagung lächeln, kann man auch Leute bespötteln, die mit einer sogenannten Hasenscharte oder einem anderen Gebrechen behaftet sind. Leute, die nicht mehr in der mittelalterlichen Anschauung befangen sind, werden Gebrechen oder anormale Veranlagung nicht als Ausgeburten der Übersättigung oder der Zügellosigkeit halten. Daß vielfach Leute erst im reiferen Alter ihr richtiges Geschlecht erkennen, zeigen treffend folgende Beispiele. Vor vielen Jahren erschien auf dem Berliner Kriminalgericht, als die Justitia in Berlin noch im Hause Molkenmarkt 3 thronte, ein hübscher, bartloser junger Mann von 22 Jahren mit schön frisiertem, goldblondem Haupthaar. Er überreichte dem Gerichtsdiener seine Vorladung. Der Gerichtsdiener warf einen Blick auf die Vorladung und sagte zu dem jungen Mann: „Sie kommen wohl für Ihre Schwester, es gibt aber bei Gericht keine Vertretung.“ Nein, ich komme nicht für meine Schwester, antwortete der junge

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_5_(1912).djvu/252&oldid=- (Version vom 31.7.2018)