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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5

Alpen. Eines Tages vernahmen Hirten vom Stilfser Joch her einen lauten Aufschrei und in demselben Augenblick einen schweren dumpfen Fall. Kurze Zeit darauf sahen die Hirten einen jungen Mann – es war Tourville – in großer Erregung vom Stilfser Joch herunterkommen. Er erzählte den Hirten und auch im Hotel: seine Frau sei, als sie sich auf der höchsten Spitze des Stilfser Jochs befanden, infolge Unvorsichtigkeit in die Tiefe gestürzt. Die Leiche der Frau Tourville wurde sehr bald im jähen Abgrund einer Felsenschlucht mit zerschmettertem Schädel gefunden. Da starke Verdachtsgründe vorlagen, daß Tourville seine Gattin gewaltsam hinabgeworfen habe, um sie los zu werden und sich in den Besitz des ihm zufallenden Vermögens zu setzen, wurde er verhaftet und die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er hatte sich im Hochsommer 1875 vor dem Schwurgericht zu Bozen zu verantworten. Tourville beteuerte beharrlich, unschuldig zu sein, seine Gattin sei infolge Unvorsichtigkeit hinabgestürzt. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde beschlossen: eine örtliche Augenscheinnahme vorzunehmen. Sämtliche Prozeßbeteiligte, die Mitglieder des Gerichtshofs, Staatsanwalt, Verteidiger, Geschworene fuhren mit dem Angeklagten an einem wundervollen Sommermorgen nach dem Stilfser Joch. Die Vertreter der Presse hatten sich selbstverständlich angeschlossen. Es war eine Puppe von der ungefähren Größe und Schwere der Frau Tourville hergestellt worden. Diese Puppe wurde auf die Anhöhe gestellt, von der, laut Angabe des Angeklagten, der Sturz erfolgt sein sollte. Es ergab sich, daß ein Hinabstürzen ohne fremde Gewalt unmöglich war. Infolge dieses und anderer Vorkommnisse erlangten die Geschworenen die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten. Er wurde wegen Totschlags zu zwanzig Jahren schweren Kerkers, verschärft mit einem Tage Fasten in jedem Monat, verurteilt. – Kehren wir nun in den Münchener Gerichtssaal zurück. Auf der Anklagebank saß ein mittelgroßer hübscher

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_5_(1912).djvu/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)